Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
darauf. Komm, Sandra, Süße, sei so lieb und tu deinem Vater den Gefallen, umschmeichelte Jofre seine Tochter und küsste sie auf die Wange. Schon gut, ich sehe schon, ich bin dran, sagte sie und stand auf. Was wollt ihr für eins?, und dann lauter: Oma, willst du auch ein Eis? Vehement schüttelte Dolors den Kopf, denn nach ihrem letzten Eis hatte sie zur Toilette hasten müssen, zwar nicht, um sich zu übergeben, sondern aus einem anderen Grund, der war jedoch nicht minder unangenehm.
Ach, Sandra, arme Sandra, alle führen dich an der Nase herum, für eine Schauspielerin bist du viel zu gutgläubig, du bist blind, Kind, du bist einfach blind. Kaum hatte Sandra nämlich die Wohnungstür hinter sich geschlossen, erhob sich Jofre, schielte kurz zu Dolors hinüber, die so tat, als wäre nichts wichtiger als ihr Strickzeug, das sie aus ihrer Tüte hervorkramte, und flüsterte dann: Komm, Mònica. Während die beiden schäkernd im Elternschlafzimmer verschwanden, starrte Dolors ihnen verblüfft hinterher und machte dabei wahrscheinlich ein Gesicht, als hätte man ihr gerade eine Sahnetorte mitten ins Gesicht geklatscht. Jofre hatte seine Ich-dich-auch-Mònica also tatsächlich in der Schule kennengelernt: Allerdings war sie keine Kollegin, sondern ging in Sandras Klasse und war gerade mal sechzehn, allerhöchstens siebzehn Jahre alt! Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht!
Auch wenn sie nicht mehr ganz genau weiß, wie viele Tage das nun schon her ist, so ist sie sich aber ganz sicher, dass die beiden sich im Elternschlafzimmer einschlossen, obwohl sie dessen Tür von ihrer Ecke aus nicht sehen kann. Sie kennt nämlich alle Geräusche in der Wohnung, selbst die allerleisesten, und kann sie genau zuordnen. In den sechs Monaten, die sie nun schon hier lebt, hat sie sich alle gut eingeprägt. Für jemanden wie sie, der von jeher eine schnelle Auffassungsgabe hat, ist das eine lange Zeit, auch wenn im Alter das Gedächtnis natürlich nicht mehr so gut funktioniert wie früher. Diese nachlassende geistige Regheit kann man jedoch durch logisches Denken wunderbar wettmachen, das mit den Jahren immer besser wird, und natürlich auch durch die Erfahrung, die die beste Lehrmeisterin ist. Erfahrung, Scharfsinn, die sich schließende Tür und die erstickten Schreie sagten Dolors jedenfalls, dass sich Jofre mit seinen über fünfzig Jahren mit der Freundin seiner Tochter, einer Minderjährigen!, vergnügte. Und das war wirklich unglaublich und einfach widerlich!
Noch eine, die leiden wird, denkt Dolors nun. Ganz bestimmt, denn wenn Jofre dieser Mònica überdrüssig ist, lässt er sie fallen wie eine heiße Kartoffel, so ist das Leben immer: In den friedlichsten Momenten, wenn man glaubt, ganz in sich zu ruhen, nimmt es plötzlich wieder eine unerwartete Wendung. Dolors lässt ihre Strickarbeit sinken, voll Wut über ihren Schwiegersohn. Unerhört, was sich der da herausnahm! Lass es in Ruhe, das Unschuldslämmchen.
Gut siehst du aus, Mama, du wirkst ganz gelassen, hat Teresa sie heute Morgen begrüßt. Wie immer ist Jofre von der Bildfläche verschwunden, bevor sie geklingelt hat. Wieweit bist du mit Sandras Pullover? Erschrocken hat Dolors den Finger auf die Lippen gelegt, doch Teresa hat unbekümmert den Kopf geschüttelt: Keine Sorge, Sandra hat es nicht gehört, sie ist gerade in der Dusche, komm, zeig ihn mir mal. Ach, wie gern hätte sie ihrer Ältesten erzählt, dass sie bei den Armausschnitten ein paarmal Murks gemacht hat, ist Dolors durch den Kopf geschossen, als sie die Tüte unter ihrem Sessel hervorgeholt hat, aber da das nun mal nicht mehr geht, drückt sie ihr schweigend, doch mit einem stolzen Lächeln die Strickarbeit in die Hand.
Anfangs, im Krankenhaus, hatte sie sich noch mit kehligen Lauten zu verständigen versucht, aber niemand hatte irgendwas begriffen. Auch deshalb hatte sie damals bittere Tränen geweint. Dass sie nach einem Leben, in dem Worte für sie alles waren, kein einziges verständliches Wort mehr herausbrachte, hatte sie fast verzweifeln lassen, zumal ihre rechte Hand schon seit einiger Zeit zitterte und einen Satz zu schreiben daher eine wahre Heldentat war. Doch wollte sie auch unter keinen Umständen Mitleid erregen, wie sie es in den Augen ihrer Lieben sah, wenn sie sich mitzuteilen versuchte. Ihre Würde, die sie nie, nicht einmal in den schlimmsten Momenten, verlassen hatte, hatte sie schließlich auf den rettenden Gedanken gebracht: Ich muss es schaffen, völlig zu verstummen. Und
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