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Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman

Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman

Titel: Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanca Busquets
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»In unserer Familie gibt es keine Geheimnisse« ist eine fromme Lüge, pure Selbsttäuschung, alle Welt hat Geheimnisse, und zudem geben die Geheimnisse dem Leben die nötige Würze. Sie selbst hatte zwölf Jahre lang kein einziges Geheimnis gehabt und sich nur müde und gelangweilt gefühlt. Später aber, als sie sich vorkam wie eine tickende Zeitbombe kurz vor dem großen Knall, da hatte sie eine richtig gute Zeit.
    Mit ein wenig Glück gibt es an diesem Wochenende nun keine aufreibenden Neuigkeiten mehr, sodass sie an diesem Sonntag vielleicht noch bis zum Halsausschnitt stricken kann. Konzentrier dich, Dolors. Ach, wie dünn Sandreta bloß ist   …
    Ihrer Enkelin geht es nicht gut. Gar nicht gut. Nicht allein, dass sie nicht isst oder das Essen wieder erbricht, ohne dass das irgendwer in der Familie merkt, sie wirkt auch völlig schlapp und ihre Augen haben jeglichen Glanz verloren. Wieder und wieder schaut sie sich im Flurspiegel an und murmelt leise, was für ein breiter Arsch, meine Scheiße, bin ich fett! Als sie das zum ersten Mal hörte, dachte Dolors noch, das sei ein Scherz, denn wenn jemand, der nur noch ein Strich ist, behauptet, er sei zu drall, ist das wirklich zumLachen. Sie glaubte tatsächlich, Sandra habe es ironisch gemeint, als wollte sie sich darüber lustig machen, dass sie nur noch Haut und Knochen ist. Leider musste sie nach ein paar Tagen jedoch feststellen, dass es ganz und gar kein Scherz war. Und Dolors hatte in ihrem Leben nun wirklich schon viele spindeldürre Menschen gesehen, aber keinen, der so dünn war wie sie. Nicht einmal Teresa war so dürr gewesen bei ihrem ersten Treffen, nachdem Eduard sie verstoßen hatte.
    Das Einzige, was uns bleibt, sind unsere Standesehre und unsere angestammten Rechte, hatte der erzkonservative Eduard damals gewettert, und die lassen wir uns nicht nehmen. Teresa stritt sich ständig mit ihm, nahm an Demonstrationen und illegalen Streiks teil und hatte sich mit ehemaligen Arbeitern ihres Vaters angefreundet, die von ihm »ausgebeutet« worden waren, wie sie es nannte. Ganze Wochenenden verbrachte sie bei ihren Freunden, und wenn sie heimkam, gab es wieder Geschrei, denn Eduard löcherte sie mit Fragen, auf die Teresa keine Antwort gab. Seit sie fort war, herrschte zu Hause wenigstens Ruhe.
    Nicht etwa, dass Eduard wenig Verständnis gehabt hätte oder unnachgiebig gewesen wäre. Es war nur so, dass Teresa das Kind eines anderen Mannes war, und sosehr er sich auch bemühte, konnte er das nicht vergessen. Er liebte sie einfach nicht und wollte daran auch nichts ändern. An jenem Tag des Rausschmisses stand es Dolors plötzlich glasklar vor Augen. Eigentlich war es schon immer offensichtlich gewesen, doch solange Teresa ihm dafür keinen Grund gegeben hatte, hatte er keinen Vorwand gefunden, um sie aus seinem Leben zu verbannen. An jenem Tag, als er sie hinausgeworfen hatte, war es deshalb ein Leichtesgewesen, diesen Ballast aus der Vergangenheit abzuwerfen, der ihm so schwer auf der Seele lastete.
    Mutter und Tochter trafen sich in einem Café. In den zwei Monaten, die sie sich nicht gesehen hatten, war Teresa furchtbar abgemagert. Isst du nicht genug?, fragte Dolors besorgt, hier, nimm das Geld, das ist für dich. Ich will nichts von meinem Vater, entgegnete sie widerborstig. Das Geld ist nicht von ihm, sondern von mir, ich habe es eigenhändig verdient, bitte, nimm es. Teresa hatte zum Glück keine Fragen gestellt und das Geld eingesteckt. Dann verschlang sie im Nu ein dick belegtes Schinkenbrot, es war offensichtlich, dass sie Hunger hatte. Da konnte Dolors nicht mehr anders: Sie brach in Tränen aus, und in jenem Moment begann sie, Eduard zu hassen. Von ganzem Herzen, mit jeder Faser ihres Körpers, mit ihrem ganzen Verstand.
    Hass ist ein furchtbares Gefühl. Auf krankhafte Art bindet es uns an den verhassten Menschen, wir wünschen ihn dorthin, wo der Pfeffer wächst, aber vorher soll er noch bitte schön dafür bezahlen, was er uns angetan hat. Hass macht uns zu Gefangenen unserer eigenen Gefühle, wie ein Krebsgeschwür verwandelt er gutartige Zellen in bösartige, die dann unkontrolliert wuchern und alles zerstören, was sich ihnen in den Weg stellt.
    Gott sei Dank, die Armausschnitte haben jetzt genau das richtige Maß. Mit einem bisschen Glück hat sie das Vorderteil in zwei, drei Tagen fertig. Jetzt kann sie sich noch ein wenig ausruhen, bis Jofre, Martí und Sandra nach Hause kommen. Bald gibt es Abendessen, es ist gleich neun.
    Dolors

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