Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
musste sich immer mehr zusammenreißen, wenn sie Eduard sah. Zweimal hatte sie ihn angefleht, er solle Teresa nach Hause kommen lassen, was er mit einem kategorischenNein abgelehnt hatte, und beim dritten Mal explodierte er dann: Anscheinend liebst du Teresa mehr als Leonor. Wie das wohl kommt?
Mit dieser boshaften Antwort begann sich der Tumor unkontrolliert auszubreiten. Nie zuvor war Dolors so von etwas überzeugt gewesen wie in dem Moment, als sie sagte: Entweder darf Teresa zurückkommen, oder ich ziehe mit Leonor aus: Die Entscheidung liegt bei dir. Als er das hörte, erschrak Eduard zu Tode. In seinem Stolz als Familienoberhaupt getroffen, zutiefst gedemütigt und besiegt im Kampf für die Bewahrung der althergebrachten Regeln und traditionellen, längst nicht mehr gültigen Werte, hatte sich Eduard immer mehr verhärtet und von der Welt und den Seinen zurückgezogen. Er sah Dolors an, und da wurde ihm bewusst, dass sie sich verändert hatte, dass sie ihm Paroli bieten konnte und, schlimmer noch, dass sie ihn womöglich tatsächlich verließ. Und ohne Dolors war er verloren. Sodass er nach kurzem, betretenem Schweigen nachgegeben hatte. Mit hängenden Schultern war er aus dem Zimmer geschlurft wie ein Mann, der in einem Krieg besiegt worden war, den er selbst angezettelt hatte, und dem am Ende nichts von dem blieb, für das er kämpfen wollte oder das er bereits besessen hatte. Sag Teresa, sie kann zurückkommen, wenn sie will.
Der Ausschnitt
Früher, in den ersten zwölf Jahren ihrer Ehe, hatte Dolors für die Mädchen und sich selbst unheimlich viel gestrickt. Schals, Stulpen, Strümpfe, Handschuhe, Jacken – und vor allem Pullover, dicke kuschelige für den Winter, und leichte aus Baumwolle für den Sommer. Die Winterpullover machte sie immer mit Rollkragen, bei den Pullovern für den Sommer war die Sache hingegen nicht so einfach: Auch wenn die Zeiten sich langsam änderten und es mit der Fabrik abwärtsging, wurde von ihr als Frau eines Direktors doch ein gewisser Anstand erwartet, weshalb sie nicht zu viel Haut zeigen durfte. Bei den Mädchen musste sie zum Glück nicht darauf achten: Den Ausschnitt strickte sie immer so, dass er nicht zu eng anlag, sondern dass sie es schön luftig hatten.
Nachdem sie so viele Jahre nicht mehr für ein junges Mädchen gestrickt hat, muss Dolors nun bei der Lektüre ihrer Strickzeitschrift feststellen, dass sich die Dinge doch sehr geändert haben. Was die jungen Leute heutzutage tragen, kann man fast schon nicht mehr Ausschnitt nennen, so wie es in der Anleitung für den Pullover steht, den sie sich für Sandra ausgesucht hat, ist die Öffnung für den Hals so groß, dass sie fast über die Schultern rutscht.Aber eben nur fast, darin liegt die Herausforderung, nicht dass ihre Enkelin zur Zielscheibe des Spotts wird. Es geht also darum, kokett die Schultern zu zeigen und auch die Träger von dem BH und dem Top, die sie darunter trägt. Die Glückliche, sagt sich Dolors. In ihrer Jugend hatte sie auf so etwas noch nicht geachtet, weil in ihrem Umfeld niemand freizügig gekleidet war, später aber verspürte sie Neid und Wut, als sie sah, dass bestimmte Frauen mithilfe des Ausschnitts ihre besten Seiten zur Geltung bringen konnten, während sie bis oben hin zugeknöpft oder mit diesen hochgeschlossenen, wohlanständigen Pullovern herumlaufen musste.
Wo willst du in diesem Aufzug hin?!, fragte Eduard, als sie das erste Mal eine Bluse trug, die etwas mehr sehen ließ, als das seiner Meinung nach erlaubt war. Einkaufen, erwiderte Dolors kurz angebunden, während sie ihren Groll hinunterschluckte, um ihn dem Ehemann nicht, in eine Dosis Gift verwandelt, ins Gesicht zu spucken. Darauf war Eduard verstummt, denn Dolors’ Stimme duldete keinen weiteren Widerspruch. In diesem Moment verspürte sie nicht übel Lust, auch noch in den durchscheinenden Rock zu schlüpfen, den sie zusammen mit der Bluse gekauft hatte und der in ihrem Schrank hing, weil es ihr zu gewagt erschienen war, beides zusammen anzuziehen.
Eduard hatte ihr nichts mehr vorzuschreiben, noch aber versuchte er es. Er war wie der Schwanz einer Eidechse, der infolge der Reflexe noch zuckte, obwohl er längst abgehackt war. Doch es waren die letzten Zuckungen. Er ahnte bereits, dass Dolors nicht länger auf ihn hören würde, dass ihr Spiel des Gebens und Nehmens im Tausch gegen ihre beidseitige Verschwiegenheit zu Ende war. Dolors war diesesSpiel leid. Jetzt war sie es, die bestimmte, wo es in ihrem Leben
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