Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
herausgefordert. Sie hatte sich einen Hocker geholt und war hinaufgestiegen, völlig gedankenlos, denn sie konnte ihn riechen, den verführerischen Duft der Schokolade, sie konnte ihn riechen oder bildete sich das möglicherweise bloß ein, egal, Tatsache ist, dass sie um keinen Preis aufzuhalten war. Auf dem Hocker stellte sie sich dann auf die Zehenspitzen und … fiel.
Vom Boden aus sah sie, wie Jofre und Martí, von dem Gepolter alarmiert, in die Küche gerannt kamen. Nun konnte sie nicht nur nicht sprechen, sie konnte sich auch nicht mehr rühren, denn ihr Arm und ihr rechtes Bein spielen nicht mit. Sie spürte keinen Schmerz, doch sie konnte beides nicht bewegen, sie gehorchten den Befehlen ihres Gehirns nicht mehr. Außerdem war sie völlig benommen. So blieb sie liegen, bekam nur zur Hälfte mit, was passierte, ließ mit sich geschehen, was erst Jofre und Martí, dann die Rettungssanitäter und schließlich die Nervensägen im Krankenhaus mit ihr machten. Diesmal war es ein anderer Arzt. Sie wurde operiert, aber viel bekam sie davon nicht mit. Anscheinend hatten sie ihr auch etwas zum Schlafen gegeben, denn bei einer Operation bekommt man normalerweiseeine Vollnarkose. Dabei waren ihr Arm und ihr Bein doch bereits im Tiefschlaf gewesen, sie spürte sie überhaupt nicht mehr. Gut, den Arm nicht, den hat man eingegipst, operiert wurde nur das Bein; offenbar hatte sie es mehrmals gebrochen, doch wenn man alt ist, merkt man Knochenbrüche nicht mehr so sehr. Vermutlich weil die Anzahl der Nervenbahnen im Alter immer mehr abnimmt. Schmerzen hatte sie zumindest nicht.
Jetzt sitzt sie jedenfalls nicht mehr den ganzen Tag im Wohnzimmer in ihrem Sessel. Jetzt kommt sie nicht mehr aus dem Bett. Aber sie vertraut darauf, in Kürze wieder laufen zu können, denn sie fühlt sich von Tag zu Tag kräftiger. In ihrem Kopf allerdings herrscht nach wie vor Nebel, es ist nicht mehr daran zu denken, die Zeit zu messen, es fällt ihr sogar schwer zu beurteilen, ob das, was sie sieht und denkt, wirklich jetzt passiert, oder ob es vor zehn Tagen war oder vor einem Monat.
Doch sie hat Fixpunkte. Als sie irgendwann allein mit Leonor war, wies sie ihre Tochter besorgt auf Sandras Pullover hin, er ist fertig, teilte sie ihr gestikulierend mit, du musst ihn nur noch zusammennähen. Leonor weinte, wie immer, die dumme Gans, sie konnte sich einfach nicht zusammenreißen. So schlimm ist es doch nicht, wollte Dolors sagen, ich liege hier gut, da mussten wir doch alle schon das eine oder andere Mal durch, Kind, als du die Masern hattest, warst du viel schlechter dran als ich jetzt, und ich habe nicht um dich geheult. Doch das konnte Dolors ihr nicht sagen, und Leonor wischte sich die Tränen ab mit den Worten: Das hast du mir schon gesagt, Mama, keine Sorge, ich nähe ihn zusammen. Na, so was, stellte Dolors da überrascht fest, hatte sie ihr das wirklich schon einmalzu verstehen gegeben? Sie kann sich jedenfalls nicht daran erinnern.
O nein, Fuensanta schon wieder. Alles, bloß das nicht. Jetzt, da sie sich neben sie setzt, erinnert Dolors sich, dass ihre ehemalige Haushaltshilfe auch gestern schon da war und vorgestern und vorvorgestern. Vielleicht gibt es ja doch einen Gott, der beschlossen hat, dass man die Konsequenzen seines Handelns und Denkens zu tragen hat. Tatsache ist, dass Fuensanta jeden Tag kommt, den ganzen Vormittag nicht von Dolors’ Seite weicht und sie in einem fort fragt, brauchen Sie etwas, Senyora, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? An manchen Tagen weint sie, an anderen nicht, jetzt allerdings sieht sie so aus, als hätte sie sich eben erst die Tränen abgewischt. Diese beiden, Leonor und sie, sind wirklich ein großartiges Gespann von Klageweibern, das hat Dolors gerade noch gefehlt.
Sandra hat nicht geweint. Gern würde Dolors fragen, was denn aus der Klinik und ihrer Magersucht geworden sei, aber das ist vollkommen unmöglich, denn jetzt kann sie noch nicht einmal mehr etwas aufschreiben: Die Hand, die vorher bloß zitterte, ist obendrein im Gips. Aber sie weiß noch genau, dass Sandra an einem dieser Tage, vielleicht ja erst vorhin, bei ihr gewesen ist und ihr die Zunge herausgestreckt hat. Im ersten Moment hatte sich Dolors verdattert gefragt, was das soll, doch als sich Sandra nicht rührte, sah sie genauer hin, und da verstand sie, dass das Mädchen ihr den Stecker in ihrer Zunge zeigen wollte. Also hat Leonor Sandras Schweigen schamlos erkauft. Ach, wie bitter, denkt Dolors beim Blick darauf.
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