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Die Wuensche meiner Schwestern

Die Wuensche meiner Schwestern

Titel: Die Wuensche meiner Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa van Allen
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wärmsten Wünsche und Segnungen hinzu.
    Doch wenn sie einen Zauber strickte, einen bewussten, zielgerichteten Zauber, dann war das etwas anderes. Sie brachte im Geiste das größtmögliche Maß an Fokussierung und Konzentration auf; sie schüttete sich selbst aus und wrang sich geradezu aus. Es war nicht so, dass sie diesen Prozess auf einer gewissen Ebene nicht auch genießen konnte. Ihr gefiel die Intensität daran, das Gefühl, als würde sie von einem wild gewordenen Kutscher vorangetrieben, der seine Pferde – schneller, schneller! – in eine teuflische Raserei peitschte. Doch am Ende der Hatz, wenn sie fertiggestrickt hatte und sich so leer fühlte, dass sie das Geräusch der aneinanderprallenden Luftpartikel hören konnte, dann blieb ihr nichts anderes als der todmüde Optimismus, der Zauber möge so »hängenbleiben«, wie sie es geplant hatte.
    Nun waren die fingerlosen Handschuhe fertig. Und mit etwas Glück, mit der Macht von Ruths Opfer und Aubreys Wünschen würden sie wirken.
    Sie stand vorsichtig auf, wobei ihre Knie knirschten wie sprödes Leder, und trat an die Kommode am Fenster, auf der der massive Wälzer mit Stoffeinband lag, den ihre Familie seit 1867 zur Buchführung verwendete. Das »Große Buch im Flur« befand sich nicht mehr an seinem ursprünglichen Platz, doch der Name war geblieben – auch,weil es nicht ganz so eindrucksvoll geklungen hätte, es das »Große Buch im Gästezimmer« oder das »Große Buch auf Aubreys Kommode« zu nennen. Wie einst die alten Bibeln in den holländischen Bauernhäusern wanderte das heilige Buch der Strickerei im Laufe der Jahrhunderte von Raum zu Raum, doch es bekam stets einen Platz in Fensternähe. Wenn jemals ein Feuer das alte Fachwerkhaus plündern und zerstören sollte, dann konnte das »Große Buch im Flur« schnell hinausgeworfen werden, in Sicherheit.
    Nachdem sie Ruths Namen, eine Beschreibung ihrer Opfergaben und ihre Adresse – nach der Aubrey nicht hatte fragen müssen, da in Tarrytown einfach jeder wusste, wo Ruth Ten Eckye lebte – eingetragen hatte, nahm sie Ruths Anstecker vom Tisch neben sich und trug ihn ehrfürchtig in der hohlen Hand wie ein Glühwürmchen die gewundene Turmtreppe hinauf. Mit Mariahs Tod war Aubrey zur offiziellen Hüterin der Strickerei geworden. Nun war alles ihres: ihre Last, ihre Verantwortung, ihre Freude. Sie konnte nur hoffen.
    Sie legte Ruths Kürbisbrosche zu all den anderen Reliquien und verließ den Turm sofort wieder. Dann ging sie die Treppe hinunter und warf sich bäuchlings aufs Bett, zu erschöpft, um sich auszuziehen.
    * * *
    »Glaubst du, dass sie glücklich ist?«, fragte Meggie. Sie lagen nebeneinander auf Meggies alter Steppdecke und ließen die Füße vom Bettrand baumeln. Es war spät in der Nacht, doch Meggie war nicht müde. Sie machte sich Sorgen um Aubrey. Einiges an ihrer Lebensweise, was Meggie noch nicht wahrgenommen hatte, als sie die Strickerei vor vier Jahren verließ, erschien ihr nun bedenklich.
    »Kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Bitty. »Sie führt das reinste Eremitendasein.«
    »Sie hat eine Freundin. Jeanette scheint cool zu sein.«
    »Sie kennt vielleicht ein paar Leute, aber sie hat kein Sozialleben«, entgegnete Bitty. »Bloß ihren Job in der Bibliothek, die Strickerei und den Igel. Sie sitzt die ganze Zeit zu Hause. Und jetzt, wo Mariah tot ist, wird es noch schlimmer werden.«
    »Und was denkst du, was sie will?«
    »Keine Ahnung.« Bitty zog sich das lange Ende ihres Pferdeschwanzes vors Gesicht und betrachtete die Spitzen mit zusammengekniffenen Augen. »Vielleicht glaubt sie, dass es nicht darauf ankommt, was sie will.«
    »Ich schätze, das Gefühl kenne ich«, meinte Meggie. Sie schwieg, doch ihre Schwester hing ihren eigenen Gedanken nach und fragte sie nicht, was sie damit sagen wollte.
    »Wenn sie hierbleibt …«
    »Ich weiß«, erwiderte Bitty. »Es ist gefährlich.«
    Sie schwiegen. Meggie wusste, dass sie beide an ihre Mutter dachten.
    »Wir müssen ihre Entscheidung akzeptieren«, schloss Bitty. »Wir können sie nicht retten, wenn sie es nicht will.«
    »Aber wir müssen es zumindest versuchen.«
    Aus dem Großen Buch im Flur
    Woher kommt der Drang, etwas zu erschaffen? Kinder kritzeln Smileys auf die Schuhe ihrer Freunde. Mütter flechten ihren Töchtern das Haar. Väter zeigen ihren Söhnen, wie man Laubsäge, Pinsel oder Zange verwendet. Der Impuls, etwas zu schaffen, ist ein Geschenk und ein Segen. Doch man muss achtgeben, dass er nicht

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