Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wuensche meiner Schwestern

Die Wuensche meiner Schwestern

Titel: Die Wuensche meiner Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa van Allen
Vom Netzwerk:
schwarzen Trainingsanzug mit zwei weißen Streifen, die ununterbrochen von den Fußknöcheln bis zu den Achseln verliefen. »Mom! Mom! Hör doch!« Nessas Flüstern war hysterisch.
    Bitty betrat das Strickzimmer.
    »Hörst du das?«, fragte Nessa. Das Blut in ihren Adern war gefroren. Der Nebel um sie herum atmete.
    Bitty stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete die knisternde Wolle und den Nebel mit nicht mehr Angst, als ein Landvermesser zeigen würde, der seine Aufgabe fürden kommenden Tag in Augenschein nahm. Nessa ärgerte sich darüber, dass ihre Mutter so gleichgültig war. Doch plötzlich erfüllte sie eine ganz andere Sorge. Was, wenn ihre Mutter die Wolle gar nicht knistern hören und den scheußlichen Nebel gar nicht sehen konnte? Was, wenn nur Nessa dazu in der Lage war? Was, wenn sie wie eines dieser unschuldigen Kinder aus den Filmen war, die immer von wütenden Geistern Ermordeter verfolgt wurden?
    Dann öffnete ihre Mutter endlich den Mund: »Ja. Verstörend, nicht?«
    Und der ganze furchtbare, wundervolle, schreckliche, aufregende Spuk war vorüber.
    »Das ist eine komische Sache, die da passiert«, sagte ihre Mutter. Sie hätte genauso gut über Algebra oder irgendetwas, das sie im Fernsehen gesehen hatte, sprechen können. »Wenn die Luftverhältnisse genau richtig sind. Die Temperatur und die Feuchtigkeit und so. Dann kondensiert der Nebel in der Wolle.«
    »Aber woher kommen die Geräusche?«, fragte Nessa.
    »Das weiß ich nicht genau. Wolle ist ja eine Naturfaser. Und die nimmt irgendwie die Feuchtigkeit auf, wie die Erde. Oder so. Und dann biegen und strecken sich die Fasern, und das macht dann diese leisen Geräusche. Ich weiß nicht, ob ich das ganz richtig erkläre. Jedenfalls ist es etwas Wissenschaftliches.«
    Nessa wurde das Herz schwer. Sie hatte nicht gedacht, dass sie so enttäuscht sein würde. »Ich dachte, es wäre ein Geist.«
    »Nee.« Bitty nahm eine Strähne von Nessas rotem Haar und schob sie ihr ohne ersichtlichen Grund hinter die Schulter. »In diesem Haus gibt es keine Geister.«
    »Bist du dir sicher?«
    »Absolut«, erwiderte ihre Mutter. Und ihre Überzeugung war so stark, so unerschütterlich, dass Nessa sich auf der Stelle sicherer fühlte. Aber auch ein bisschen traurig.
    »Hol mal deinen Bruder«, schlug Bitty vor. »Der findet das bestimmt toll.«
    »Okay«, sagte Nessa. Und sie trat zum Fuß der Treppe, öffnete den Mund und brüllte nach ihrem Bruder, schrie sich die Lunge aus dem Leib, schrie und schrie, bis ihre Mutter sagte, sie solle damit aufhören, doch sie konnte nicht, nicht einmal, als Carson zerzaust und verwirrt oben an der Treppe erschien. In ein paar Minuten würde sich der Nebel verzogen haben.
    * * *
    Aubrey brach irgendwann während der wirren, vergessenen Stunden zwischen Mitternacht und Morgendämmerung vollkommen erschöpft und ausgelaugt auf dem Stuhl in ihrem Schlafzimmer zusammen. Ihre Muskeln hatten sich verkrampft, sie hatte Kopfschmerzen, und ihre Augäpfel taten so weh, als hätten sich zwei Hände darum geschlossen, die nun kräftig zudrückten. Es war wie jedes Mal. Auf ihrem Schoß lagen zwei fingerlose Handschuhe. Fertig.
    Das Bild von Ruth Ten Eckyes Handschuhen hatte sich in ihrem Kopf geformt, lange bevor sie mit dem Stricken begonnen hatte: gerippte Bündchen, das Innenfutter hoch aufragend wie ein Burgturm, Masche für Masche, Stein für Stein; der Zwickel für den Daumen – entstanden aus einer fensterartigen Öffnung – zweigte nahtlos nach außen ab, die röhrenförmigen Zinnen entfalteten sich, wo die Finger herausragen würden, um ihre Arbeit zu verrichten – sie hatte all das vor sich gesehen, so dass das Muster bereits fest in ihrem Unterbewussten verankert war, als sie den Zopfmusteranschlag vorbereitet und vierundvierzig kleine Maschen gleichmäßig auf einem Nadelspiel verteilt hatte und sich nur noch selbst aus dem Weg treten und ihre Finger fliegen lassen musste, um ihm zu folgen.
    Aubrey strickte leidenschaftlich gern. Wenn sie um des Strickens willen strickte und nicht, um einen Zauber zu wirken, genoss sie es. Es war angenehm, befriedigend und beruhigend. Aubrey gefiel es, ihren Projekten Zentimeter um Zentimeter beim Wachsen zuzusehen, bis sie auf das zurückblicken konnte, was sie geleistet hatte, und abmessen, wie weit sie schon gekommen war. Auch wenn sie keinen Zauber strickte, bemühte sie sich bei der Arbeit stets um eine positive Einstellung und fügte gern zumindest ein paar Maschen ihre

Weitere Kostenlose Bücher