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Die Wuensche meiner Schwestern

Die Wuensche meiner Schwestern

Titel: Die Wuensche meiner Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa van Allen
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seufzte. Sie erinnerte sich an jene Zeit, ein paar Jahre ihrer Kindheit, in der sie und ihre Schwestern stets zusammenhielten. Leid konnte eine Familie zusammenschweißen; Schmerz konnte wie die Schwerkraft wirken, die alles an einen zentralen Punkt zog. Leid konnte eine Familie aber ebenso auseinanderreißen, wie die Fliehkraft, die alle in eine andere Richtung davonschleuderte. Und manchmal bewirkte Leid beides, das Versammeln und das Zerstreuen, wenn es nur lang genug andauerte.
    Der sie verbindende Schmerz ließ sich, abgesehen von all den Unannehmlichkeiten, die das Leben in der Strickerei mit sich brachte, auf ihre Mutter zurückführen. Jahre waren vergangen zwischen dem Tag, an dem Lila Van Ripper verschwand, und dem, an dem man sie für tot erklärte. Mariah, die von Anfang an darauf beharrt hatte, dass ihre Schwester tot war, konnte die Regierung nur mit größter Mühe dazu bringen, Lilas Ableben anzuerkennen. Als neuernannter Vormund der drei kleinen Mädchen hatte Mariah einen Detektiv engagiert, die Bankkonten ihrer Schwester überwachen lassen und die Sozialversicherungsbehörde über Lilas Vermisstenstatus in Kenntnis gesetzt – und dies alles nicht etwa, um zu beweisen, dass ihre Schwester noch lebte, sondern um ein für alle Mal klarzustellen, dass sie definitiv hinüber war. In der Ungewissheit waren die Van Rippers zusammengerückt – hatten beieinander Schutz gesucht wie eine Militäreinheit bestens ausgebildeter Soldaten, die sich gegenseitig den Rücken decken, bis der Schmerz über Lilas Verschwinden langsam verblasste, die Bande zwischen den Mädchen sich zu lockern begannen, die Strickerei sich in einen Keil verwandelte, der immer weiter zwischen sie getrieben wurde, und sie sich schließlich auseinanderlebten.
    Die meisten Bewohner Tarrytowns hatten Lila nie gemocht. Sie lebte mit Mariah und ihren Mädchen in der Strickerei und hatte, was die braven Bürger der Stadt einen Ruf nannten. In den Sechzigern hatte sie lautstark gegen alles protestiert – Bomben, Männer, Fleisch, den Status quo. In den frühen Achtzigern war sie nach der Geburt ihrer Kinder (die ersten beiden von einem Mann, der hin und wieder in ihrem Leben auftauchte und dann wieder verschwand, dann Meggie von einem anderen, bei dem ihr Diaphragma verrutscht war) ein wenig ruhiger geworden. In den Neunzigern fing sie dann an durchzudrehen. Sie schnorrte Zigaretten vor dem Schnapsladen und belästigte Leute an der Bushaltestelle. Sie war dafür bekannt, bei der leisesten Provokation – ob in einem Park oder in einer Bar – ihr T-Shirt auszuziehen, und die Jungs der Stadt hatten einen Heidenspaß an ihren Eskapaden. Sie verschwand für Wochen, ganze Monate am Stück, und die Mädchen wussten nie, wohin. Manchmal kam sie braungebrannt und glücklich zurück. Manchmal blass und ausgemergelt. Sie war keine Hüterin der Strickerei, drohte den Leuten aber mit Zauberei. Als der Verkäufer im Eckladen ihr einmal versehentlich falsch herausgab, spuckte sie ihm auf die Ladentheke und schwor, seine Nachkommen zu verfluchen. Ihr Tod besiegelte schließlich ihr Schicksal. Lila Van Ripper besaß noch nicht einmal die Höflichkeit, einen Leichnam zu hinterlassen.
    Als die Regierung ihren Tod endlich bestätigte und der Bestattungsunternehmer seine kurze Grabrede hielt, waren die Tränen der Van-Ripper-Schwestern für ihre Mutter längst getrocknet. Sie standen unter dem Vordach des Bestattungsinstituts und zitterten in der Spätwinterkälte. In der Luft deutete noch nichts auf den Frühling hin. Da die Straßen verschneit waren, waren nur wenige Leute zur Beerdigung gekommen. Es wären aber auch sonst kaum mehr erschienen. Aubrey und ihre Schwestern blickten über den Fluss, der an den Ufern gefroren war, sich in der Mitte seines Betts jedoch noch schlammig voranwälzte. Bitty war fünfzehn, Aubrey elf und Meggie erst fünf. Siestanden zusammengedrängt in ihren zugeknöpften Wollmänteln und dicken handgestrickten Schals. Doch auch wenn es in der Leichenhalle wärmer war, wollten sie nicht wieder hineingehen. Irgendwann kam Mariah heraus und trat hinter sie. Sie legte ihre schweren Arme um alle drei zugleich, schaufelte sie zusammen und drückte sie fest an sich. In Kälte und Schnee hielt ihr großer Körper den Wind ab, und der Atem, der aus ihren Nasenlöchern entwich, glich dem eines schnaubenden Ochsen im Winter. »Macht euch keine Sorgen«, sagte sie. »Wir kommen schon klar. Wir haben doch uns, nicht wahr?«
    Im Gasthaus, die

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