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Die Würde der Toten (German Edition)

Die Würde der Toten (German Edition)

Titel: Die Würde der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Pons
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der Anzeige pulsierte wie ein elektronischer Herzs chlag. Sie beobachtete, wie die Ziffern umsprangen, bis das Display 16:30 anzeigte, zog die Jacke über und wartete weiter.
    Rotkäppchen sollte mit dem Wolf spielen. Und Rotkäppchen sollte ihn belügen. Seine Mutter war beerdigt. Es gab für ihn keinen Anlass mehr wiederzukommen. Dennoch war sie sicher, dass sie nicht nach einem Vorwand suchen musste, um ihn noch heute zu sehen. Sein abendliches Erscheinen glich einem Ritual. Als sie Adrians Schritte hörte, sprang sie auf und fing ihn noch auf dem Flur ab. Heute konnte sie den Gedanken nicht ertragen, ihn hier unten zu haben. Ihn – und das Ohr.

* * *

    Ihre Wohnung irritierte Adrian. Eigentlich irritierte ihn schon allein die Tatsache, dass Henry ihn hierhergeschleppt hatte. Als sie kurz verschwand, um sich umzuziehen, konnte er sich ungestört genauer umsehen.
    Henry nutzte jeden Zentimeter der kleinen Räume und sammelte offenbar mit Leidenschaft, aber ohne System. Teekannen, Schlümpfe, Totenköpfe. Auf dem Flur baumelte ein lebensgroßes Gummiskelett von der Decke und grinste die Besucher hohläugig an.
    Er hörte die Klospülung rauschen und ging zurück in die Küche . Wo kein Regal die Wand bedeckte, hingen Bilder, alte Emailschilder, Küchengeräte oder Bahntickets. Er verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch, die Aufschriften zu lesen.
    »Göteborg«, half sie ihm weiter, als sie plötzlich im Türrahmen stand. »Ist drei Jahre her.« Abwartend verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Du wolltest mir was erzählen. Schieß los.« Er setzte sich auf einen der beiden Stühle und dehnte dabei seine verspannten Schultern. »Der Rechtsmediziner sagt, du hattest Recht mit deinem Toten. Da liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Verbrechen vor.«
    »Die Fotos, die ich dir gegeben habe? Na, das will ich auch hoffen, dass er das erkannt hat!« Sie lachte spöttisch, aber ihr Blick wirkte verlegen.
    »Wie darf ich das verstehen?« Adrian beugte sich vor, stützte die Hände auf seine Oberschenkel.
    »Na ja …« Sie drehte sich von ihm weg. »Die Bilder stammen von einem Mordfall. Und sie sind nicht neu.« Aus dem Kühlschrank holte sie eine angebrochene Dose Katzenfutter und schaufelte ein paar Löffel davon in Mephistos Schüssel, während sie weitersprach. »Ich wollte einfach wissen, ob du es machst und der Sache nachgehst. Oder ob du mich für bescheuert hältst, nach dem Flop mit meinem toten Ukrainer. Das war nicht sehr erwachsen von mir, gebe ich zu.«
    »Das meinst du jetzt nicht ernst!«
    »Doch. Es tut mir leid. Es gibt keinen ungeklärten Todesfall, und deshalb habe ich dir auch keinen Namen gesagt.«
    »Woher kamen die Bilder?«
    »Ich hab sie irgendwo im Internet gefunden und abfotografiert, damit sie echt aussehen.« Henry stellte das Futter auf den Boden und goss frisches Wasser in einen zweiten Napf daneben. Einen Teil verschüttete sie sichtlich unkonzentriert, aber Adrian sagte nichts dazu. Sie krauste die Nase und verzog die Lippen zu einem verlegenen Schmollmund. »Kannst du dem kleinen doofen Kellerkind verzeihen?«
    Kellerkind. Genauso sah sie aus, wie sie da jetzt vor ihm stand. Die Füße in grauen Wollsocken, die kurzen kräftigen Beine in einer getigerten Leggings und darüber ein übergroßer lila Pullover, der sich farblich mit den roten Locken biss. Aber den Augen zwischen ihren tausend Sommersprossen konnte er nicht böse sein. Auch, wenn er ihr kein Wort glaubte. Trotzdem unterdrückte er den Impuls nachzuhaken. »Hast du Schokolade?«, hörte er sich stattdessen fragen.
    Sie kehrte ihm den Rücken zu und hob sich auf die Zehenspitzen. Unter dem schaukelnden Pulloversaum zog die Wölbung ihres Hinterteils seinen Blick an. Nervös strich Adrian sich über das stoppelige Kinn. Aus einer Dose von einem der oberen Regalbretter zauberte sie eine angefangene Tafel hervor.
    Pfefferminz. Er wusste es, noch ehe sie sich umdrehte. Aber er wusste plötzlich nicht mehr, ob es klug war, länger zu bleiben.

* * *

    Eberhard Moosbacher verschloss sorgfältig seinen Schreibtisch. Anneliese wartete mit dem Abendbrot. An der Tür zögerte er kurz, schüttelte dann den Kopf. Hier hatte er noch nie abge schlossen. Es gab keinen wirklichen Grund, Henry länger zu miss trauen. Sie machte ihren Job wie immer; sie stellte keine Fragen mehr. Wolf hatte er seit Anfang der Woche nicht mehr gesehen. Bald würde die ganze Sache ausgestanden sein. Nur noch eine Handvoll Spezialaufträge, bei denen er

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