Die Würde der Toten (German Edition)
was er erzählte. Aber eigentlich glaubte er das immer, auch wenn er vollkommen nüchtern war. Sie wollte sich nicht wieder in seinen Schlamassel verwickeln lassen.
»Du warst schon immer ein schlechter Lügner.«
Er keuchte wie ein verängstigtes Tier. Sie hörte nur noch undeut liche Geräusche am anderen Ende, dann eine fremde leise Stimme. »Unser gemeinsamer Freund lügt nicht. Ausnahmsweise. Es ist mein Messer an seinem Hals und jetzt gerade wandert es zu seinem Ohr. Wenn Sie nicht wollen, dass ich Gebrauch davon mache, hören Sie mir jetzt aufmerksam zu.«
Henry stieß verärgert die Luft aus. »Nein, Sie hören mir zu!« Dieser Marlon-Brando-Tonfall war ihr entschieden zu dick aufgetragen. »Ich weiß nicht, wie Sie auf die Idee kommen, dass ich irgendetwas tun will, was diesem Schwachkopf hilft. Aber ich weiß, dass er Ihnen nicht das Geringste nützt, wenn Sie ihn in Stücke schnipseln. Wissen Sie, was ich glaube? Dass Sie gemeinsame Sache machen, und dass Jürgen Ihnen weismachen wollte, ich würde Kohle rüberrücken, wenn Sie ihn bedrohen. Und wenn ich das Geld abgedrückt habe, wird es geteilt, und er verzockt seinen Anteil sofort wieder oder zieht sich irgendeine Scheißdroge rein. Aber nicht auf meine Rechnung. So blöd bin ich nicht! Schönen Gruß an den Idioten, und er kann mich mal!«
* * *
Henrys schlechte Laune hielt bis zum Abend an. Seit Adrian Wolf zum ersten Mal über den Hof zu ihr gekommen war, hatte sie dafür gesorgt, dass die Hintertür den ganzen Tag offen blieb. Dass er heute nicht kommen konnte, erleichterte sie. Ab sofort sollte die Tür wieder abgeschlossen bleiben. Sie wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als es klopfte. Draußen stand Viktor Bertram. Besuche durch den Hintereingang waren in dieser Familie anscheinend üblich, stellte sie murrend fest.
Kurz darauf saßen sie einander gegenüber, sie auf dem Tisch, er auf dem Drehstuhl. Henry behielt die Jacke an und schob die Hände in die Taschen. Viktor verstand das Signal.
»Ich mache es kurz«, versprach er und fischte aus einer Plastiktüte eine Schachtel Pralinen mit einer breiten roten Schleife, die er ihr hinhielt.
Verlegen nahm sie das Geschenk entgegen. »Ich habe nur meinen Job gemacht.«
»Trotzdem Danke. Für die Sache in der Trauerhalle.«
Sie zupfte an der Schleife herum. »Keine Ursache. Hat keiner gemerkt, dass wir den Deckel noch mal schnell gelüftet haben«, brummte sie. »War eine Kleinigkeit.«
»Sie haben nicht gefragt, warum.«
»Es sah aus, als wäre es Ihnen wichtig.«
»Ich musste ihr noch etwas mitgeben … Briefe. Briefe, die ich ihr geschrieben habe. Elisabeth hat sie nie geöffnet.«
»Aber sie hat alle aufgehoben?«
Er nickte und schaute auf seine Schuhe.
»Dann war es wichtig.«
Henry überlegte, streckte dann doch die Hand aus und berührte seinen Arm. »Das klingt vielleicht jetzt blöd, weil ich – na ja – ich bin gerade erst Anfang dreißig und Single, also in Bezie hungsdingen sicher nicht gerade kompetent und so, aber ich denke, Elisabeth hat Sie geliebt. Auf ihre Weise.«
Henry stand auf und klemmte die Pralinenpackung unter den Arm. Schluss jetzt. Mehr Sentimentalität ertrug sie heute nicht mehr. »Sie war nur nicht in der Lage, über ihren Schatten zu springen.«
Viktor musterte sie einen Moment schweigend und reichte ihr dann die Hand. »Können Sie das denn, Henry?«
* * *
Draußen schwand das Tageslicht in schlichtem Grau. Irgendwo hatte Adrian gelesen, dass viele Menschen nach einer Beerdigung den besten Sex ihres Lebens hätten. Vermutlich basierend auf der Erkenntnis, dass es eines Tages damit vorbei sein würde. Man brachte den Toten unter die Erde und anschließend zelebrierte man das Leben – und machte gegebenenfalls unmittelbar ein Neues.
Er war froh, dass zumindest bei diesem Thema zwischen ihm und Katja Einigkeit herrschte. Kein Nachwuchs. Ihre Prioritäten waren klar andere, und er hatte das dankbar zur Kenntnis genommen. Mehr als einmal waren seine Beziehungen an diesem Punkt gescheitert. Aber er machte sich nichts vor: Seine Ablehnung Kindern gegenüber war immer nur ein Grund von vielen gewesen.
Katja war neben ihm eingeschlafen. Die dunklen Haare lagen ausgebreitet um ihren Kopf, umrahmten ihr schmales Gesicht mit den fast unnatürlich gleichmäßigen Zügen. Sie war schön und klug, und viele beneideten ihn um sie. Er aber lag wach, betrachtete ihren Körper mit schmerzhafter Distanziertheit. Er schämte sich bei dem Gedanken an
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