Die Würde der Toten (German Edition)
nicht so genau hinsehen durfte, dann hätte Jürgen nichts mehr zu befürchten, hatte Wes termann versprochen. Und er durfte keine Aufzeichnungen darüber machen. Er hatte genickt. Aber ohne Buchführung verlor er den Überblick. So konnte er nicht arbeiten. Im Dunkeln ging er zurück, überprüfte noch einmal den Schreibtisch. Nein, so konnte er nicht arbeiten!
* * *
Sie hatten die Schokolade aufgegessen, und Adrian war geblieben. Etwas hielt ihn hier fest. Vielleicht war es nur sein plötzliches Misstrauen. Aber sicher war er nicht.
»Sex ist gar keine so bedeutende Sache. Aber eine sehr schöne Sache ist er schon.« Henry lag mitten im Zimmer auf dem Bauch und schaute ihn herausfordernd an.
»Hast du ein Problem damit, wenn ich so was sage?« Sie schau kelte mit den Füßen in der Luft. Neben ihr auf dem Boden stützte Adrian den Kopf auf die verschränkten Hände. Zwischen ihnen schnarchte Mephisto und pustete ihm von Zeit zu Zeit thunfischigen Atem entgegen.
»Sollte ich?«
Sie zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Mag sicher nicht jeder, angezogen herumzuliegen und dabei rein theoretisch über Sex zu philosophieren.«
Adrian kitzelte Mephisto am Ohr und suchte nach einer passenden Erwiderung. Er war immer noch alles andere als locker. Im Gegensatz zu Henry, wie ihm schien, die nach dem mit Schokolade besiegelten Friedensschluss ohne Unterbrechung redete. Dabei wechselte sie häufig das Thema, ließ aber den Tod erstaunlicherweise diesmal aus. Sein Instinkt sagte ihm, dass es einen Grund gab.
»Sex macht auch ohne Liebe Spaß. Aber richtig gut ist es eben nur, wenn man einander vertraut. Kann bei einem One-Night-Stand nicht funktionieren. Auch mit einem guten Freund zu schlafen, ist so eine Sache, die Probleme machen kann. Gefühle können sich ändern. Wenn dann der andere plötzlich mehr will als Freundschaft mit Sex, verlierst du alles. Das ist Mist. Da ist es besser, erst miteinander zu schlafen, und sich dann anzufreunden.«
Jetzt hatte er ein Problem mit dem, was sie sagte. Vielleicht lag es am Alter. Sie war zehn Jahre jünger, mindestens. Und sie war frei.
» Klingt merkwürdig, ich weiß, funktioniert aber. Meistens. Nagel mich nicht fest.« Sie lachte. Zu laut. Zu selbstsicher. »Oh, wow, schönes Wortspiel – war gar nicht beabsichtigt! Fest nageln , ist natürlich auch echt klasse, aber … na, du weißt, was ich meine: Ausnahmen bestätigen die Regel. Es kann immer was danebengehen. Garantie gibt’s nicht im Leben. Ich habe auch mal gedacht, man muss das absolute Exklusivrecht haben. Ist aber Schwachsinn. Wenn das Vertrauen da ist, man sich ganz dem anderen öffnen kann und einfach weiß, dass man zusammengehört, dann ist eine einzelne Nacht irrelevant. Man tut es, weil man gerade Lust hat, und vielleicht …«
Plötzlich verstummte sie und hörte auf zu schaukeln.
»Ist nur meine Meinung«, schob sie hastig nach. »Gilt nicht für jeden und hat garantiert keine wissenschaftlich nachgewiesene Grundlage.« Sie setzte sich auf, packte den überraschten Kater unterm Bauch und hob ihn auf ihren Schoß. »Jetzt bist du dran. Erzähl was von dir. Worüber ist egal.«
Adrian rollte sich auf den Rücken und schob die Hände unter den Kopf. Er hatte in den letzten Tagen eine Mutter verloren, die nie eine gewesen war, und einen Vater gefunden, den er nicht suchen wollte. Er witterte ein Verbrechen, bei dem die Leiche nicht mehr existierte. Er hatte eine wundervolle Freundin, mit der er partout nicht zusammenziehen wollte, und lag stattdessen in der Wohnung einer nahezu fremden Frau, die ihn belog und abstruse Theorien über Sex verbreitete. Die Situation war zu durchgedreht, um real zu sein. Es spielte also keine Rolle, wenn er zugab, auch verrückt zu sein.
»Ich wollte Elisabeth nackt sehen.«
* * *
Die Schmerzen waren kaum zu ertragen. Es klopfte unter dem Verband an seinem Kopf. Wimmernd hockte Jürgen in der Zimmerecke und kaute auf den Fingernägeln. Irgendjemand hatte László verpfiffen. Und der hatte dann ihn verraten. Aber es hatte László nichts mehr geholfen.
Auch sein eigener Arsch gehörte jetzt Westermann – genau wie all seine Verbindlichkeiten, bei sämtlichen Buchmachern und privaten Geldgebern der Stadt. Er war so gut wie tot.
Als sich die Tür öffnete, duckte er sich noch ein Stück weiter zu Boden und legte schützend die Arme vors Gesicht.
* * *
Henry kuschelte die Nase in Mephistos Fell und pustete leicht über die weiße Haut unter den schwarzen Haaren. Es
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