Die Würde der Toten (German Edition)
den vorangegangenen Akt. Es hatte ihm nichts bedeutet. Eine kurze Befriedigung ohne vorheriges Begehren. Nur um ihr zu beweisen, dass alles in Ordnung war mit ihm. Mit ihnen.
Adrian spürte eine merkwürdige Traurigkeit, die er sich nicht erklären konnte. Er löschte das Licht, drehte ihr den Rücken zu und starrte blicklos in die herannahende Nacht.
Tag 11 – Donnerstag
Auf der Kellertreppe stand eine Pappschachtel mit ihrem Namen. Henry schloss die Hintertür auf und betrat gleich darauf den Versorgungsraum. Den Rucksack warf sie in die Ecke, schälte sich hastig aus der Jacke und entfernte das Klebeband. Neugierig klappte sie den Deckel auf. Sie erkannte den Ohrring sofort.
Zeitgleich klingelte ihr Handy. Zweimal, dreimal, viermal. Wie betäubt nahm sie das Gespräch entgegen.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Frau Körner!«
Marlon Brandos Stimme brachte ihre Knie zum Schwanken. Sie tastete nach der Stuhllehne und setzte sich. »Wer sind Sie? Und was wollen Sie von mir?«
»Haben Sie mein Päckchen bekommen?«
»Ja.« Ihre Stimme zitterte.
»Ganz schön einsam, so ein Ohr allein. Sieht irgendwie traurig aus. Finden Sie nicht?«
»Wie geht es Jürgen?«
»Oh, es geht ihm prächtig! Aber ich denke, er ist auf Sie nicht mehr ganz so gut zu sprechen, Frau Körner.«
»Auf mich. Wie meinen Sie das?«
»Das fragen Sie noch? Ihretwegen hat er sein Ohr verloren.«
»Was? Nein! Aber wieso, was habe ich denn …«
»Sie wollten ihm nicht glauben. Und Sie wollten nicht koope rieren. Stattdessen machen Sie dumme Sachen! Rotkäppchen sollte nicht mit dem bösen Wolf spielen, sagte die Großmutter. Oder, um mich klarer auszudrücken: Dieser Polizist, der bei Ihnen ein und aus geht, schnüffelt herum. Haben Sie gedacht, ich merke das nicht?«
»So ein Unsinn! Er ist doch nur hier, weil wir seine Mutter beerdigen und …« Sie verstummte.
»Und?«
»Und wegen der Traueraufarbeitung«, schob Henry nach und hustete krampfhaft. Ihr Hals war trocken wie Sandpapier.
»Sie sind eine jämmerliche Heuchlerin. Wir hätten das gestern schon klären können, wenn Sie nicht so arrogant gewesen wären, einfach aufzulegen. Dann hätte ich mich nicht geärgert und unser Freund noch beide Ohren am Kopf. Wissen Sie, wie laut ein Mensch schreien kann, wenn man das Messer langsam führt? Aber ich bin mir sicher, jetzt hören Sie mir genau zu. Nicht wahr, Frau Körner? Ich weiß, dass Sie Adrian Wolf irgendetwas über den Mann erzählt haben, dessen tragischen Verlust wir am Montag zu beklagen hatten. Was auch immer es war, sorgen Sie dafür, dass er die Sache ruhen lässt.«
Das konnte er unmöglich wissen! Sie war doch vorsichtig gewesen, hatte Adrian den Namen des Toten nicht genannt.
»Ihr Schweigen, Frau Körner, bestätigt meine Worte. Ich kenne Sie. Ich beobachte Sie. Auch vergangene Woche konnten Sie Ihr Plappermäulchen nicht halten. So etwas rächt sich. Ich habe einen Ruf zu verlieren. Diskretion. Darum geht es doch auch in Ihrem Geschäft.«
Henry grub die Zähne in ihre Hand.
»Sie sind so still, sind Sie noch da?«
»Ja.« Ihre Augen hingen an dem Ohrring.
»Sie werden sich weiterhin mit Wolf treffen und ihn ablenken. Sie wissen, was passiert, wenn er nicht aufhört, seine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken?«
»Bitte – lassen Sie Jürgen in Ruhe!«
»Es gibt eine Menge Körperteile, die der Mensch entbehren kann. Lose Teile, die man nicht unbedingt zum Leben braucht. Es ist nur erstaunlich, wie sehr die meisten daran hängen. Ohren, Finger, Zehen. Man hat mir auch berichtet, es sei gar kein so übles Leben als Kastrat. Befreit von der Last der Begierde. Nun ja, wir wollen das nicht weiter vertiefen. Ich denke, wir haben uns verstanden? Sie halten mir Wolf vom Leib, und ich kümmere mich liebevoll um unseren gemeinsamen Freund.«
* * *
Im morgendlichen Berufsverkehr quälte Adrian sich in die Stadt. Er war früh unterwegs, nachdem er schon um fünf Uhr mit Katja gefrühstückt hatte. Eilig hatte er den Toast vorbereitet und frischen Orangensaft gepresst, während sie im Badezimmer verschwunden war. Die gebräunten Brotscheiben lehnte er zum Auskühlen an den Tellerrand, stellte Butter und Marmelade bereit und lauschte dann dem Wasserrauschen nebenan. Er zögerte ei nen Moment, denn sie mochte es nicht besonders, wenn er sie bei ihren Vorbereitungen auf den Tag störte; dann schlüpfte er doch ins Bad. Sie hatte den altmodischen Duschvorhang vor die Wanne gezogen, hinter dem er ihre Umrisse
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