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Die Würde der Toten (German Edition)

Die Würde der Toten (German Edition)

Titel: Die Würde der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Pons
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Blutstropfen.
    Henry bedeutete ihm, sich auf einen Stuhl in der Ecke zu setzen. Dann nestelte sie an den Kabeln des MP3-Players herum, drückte ihm das Gerät in die Hand, schob ihm die Kopfhörer in die Ohren und betätigte die Starttaste. »Hören Sie mal. Das waren ihre Lieblingslieder.«
    Während er bewegungslos in seiner Ecke verharrte und benommen Udo Jürgens‘ Stimme lauschte, verließ sie den Raum, was ihm einen Anflug von Panik bescherte. Doch schon Sekunden später öffnete sich die Aufzugstür an der gegenüberliegenden Wand. Gemeinsam mit einem schlaksigen, blassen Jüngling steuerte sie einen Transportwagen mit einem Sarg zum Versorgungstisch. Der Kerl musste wohl die Aushilfe sein, die sich gestern verspätet hatte.
    Als sie ansetzten, die frisch frisierte Dame anzuheben und um zubetten, war er versucht, die Augen zu schließen, tat es aber nicht. Die Stimme in seinem Ohr sang von griechischem Wein. Frankensteins Tochter und ihr Gehilfe glätteten das Kleid, falteten runzlige Hände. Aus einem Korb in der Ecke nahm Henry einen zerfledderten Teddybären, den sie ebenso sorgsam in den Sarg legte, wie die Frau zuvor. Der Deckel schloss sich über beiden, und eine Frauenstimme schmetterte ein Liebeslied. Die Griechin mit der scheußlichen Brille. Ihm fiel der Name nicht ein.
    Der Sarg wurde wieder zurück in den Aufzug geschoben, und er blieb allein mit den weißen Fliesen an der Wand, den Folterwerkzeugen, Gummihandschuhen, Schläuchen und dem leeren Korb, in dem der Bär gesessen hatte.
    Die Lippe blutete wieder, und er zog sie ein, saugte daran. Grübelte dem Geschmack nach. Süß? Bitter? Nicht salzig wie Tränen auf jeden Fall. Er räusperte sich und musste blinzeln. Entschlossen stand er auf, schaltete die Musik ab und drehte dem Korb den Rücken.
    Aus der Innentasche seiner Jacke holte er den Umschlag. Vor ihm in der Schublade lag der andere, den Henry vorhin hineingesteckt hatte. Wenn sie mit Elisabeth fertig war, würde sie seinen Umschlag auch dort ablegen. Er zog die Schublade einen Spalt breit auf. Ein Name in zittriger altdeutscher Schrift, darunter eine Adresse, ein feucht verwischter Fleck. Er hörte Henrys Schritte und drückte die Schublade zu. Wortlos streckte er ihr den Umschlag entgegen.
    »Danke.« Sie legte das Kuvert auf dem Schreibtisch ab, ohne es zu öffnen.

    »Ihre Familie wird in etwa einer Stunde da sein. Erst wenn alle bei ihr waren, wird der Sarg endgültig geschlossen. Wir haben oben ein schönes Zimmer für diesen Zweck, mit gedämpftem Licht und leiser Musik.«
    »Diese hier?« Er reichte ihr den MP3-Player.
    »Nein. Wir richten uns nach den Lebenden. Es ist immer ein kleiner Spagat. Zum einen finde ich es total wichtig, die letzten Wünsche der Verstorbenen zu berücksichtigen, andererseits muss man die aber auch mit den Empfindungen der Hinterbliebenen in Einklang bringen. Das ist nicht immer ganz einfach. Gerade was Musik anbelangt. Sie trifft das Herz unmittelbar.« Sie deutete auf sein Gesicht. »Ihre Lippe blutet.«
    Er wischte mit dem Handrücken darüber. Henry versuchte, in seine Augen zu sehen, doch er wich ihr aus.
    Manche traf die Trauer so unvorbereitet, dass sie sich verschlossen wie eine Auster. Aber dieser Mann hatte vorher schon in der Austernschale gesessen und krampfhaft den Deckel zugehalten. Das Bild gefiel ihr. Und auch wieder nicht. Austern öffneten sich ungern freiwillig, aber sie aufhebeln zu wollen, bedeutete ihren Tod. Eine schwierige Angelegenheit also, die Behutsamkeit erforderte – und Geduld lebenden Menschen gegenüber war nicht unbedingt ihre Stärke. Sie schlenkerte unschlüssig mit den Kopfhörerkabeln. Vielleicht half es ihm, wenn er sich zunächst eine fremde Tote ansah, ehe er sich seiner Mutter nähern konnte.
    »Ich kann es Ihnen zeigen, wenn Sie wollen. Das Abschiedszimmer.«
    Er schwieg.
    »Ihre Mutter ist inzwischen auch bei uns eingetroffen.« Wieder erzielte sie keine Reaktion.
    Sein Zeigefinger stupste gegen den Umschlag. »Da drin sind die Sachen, die Sie haben wollten.«
    Als Henry die Verklebung löste, wandte er sich ab. Sie breitete die Bilder vor sich aus, um sich einen eigenen Eindruck von der Frau zu verschaffen, über die Adrian Wolf partout nicht mit ihr sprechen wollte.
    Eine strahlende Schönheit, elegant, bezauberndes Lächeln. Ein Strauß Rosen in ihrem Arm bei der Hochzeit. Vor einem Rosenbusch in einem Park. Sitzend auf einem Stuhl, das Kleid bedeckt von leuchtenden Rosen. Schön, wie ein Werbeprospekt.

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