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Die Würde der Toten (German Edition)

Die Würde der Toten (German Edition)

Titel: Die Würde der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Pons
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erneut in Tränen aus, und Henry bedauerte ihre harten Worte. Aber es war nun mal die Wahrheit.
    »Warum meldet er sich denn nicht?«
    Weil das Geld noch nicht alle ist, hätte sie am liebsten erwidert, aber sie verkniff sich den Kommentar und streichelte ihrer Chefin nur wortlos über den Arm. Als sie draußen einen Schlüsselbund klappern hörte, erhob sie sich. Anneliese wischte sich schnell die Tränenspuren von den Wangen und stopfte die Bankunterlagen zurück in die Schublade. Stillschweigend einigten sie sich, dass Eberhard Moosbacher nicht wissen musste, was sie wussten.

* * *

    Von der S-Bahn Station unter dem Frankfurter Hauptbahnhof führte eine unterirdische Einkaufspassage direkt zur Münchner Straße. Von hier aus war Henry in wenigen Minuten zu Hause, schlenderte vorbei an Hotels, Handy-Shops, Kneipen, einem Asia tischen Markt, in dem sie kein einziges Schild lesen konnte, einem Waschsalon und diversen kleinen Geschäften mit einem wirren Sortiment aus internationalem Kitsch, Gewürzen und Frankfurt-Souvenirs.
    Bahnhofsviertel, das hatte für viele einen negativen Beigeschmack. Rotlichtmilieu. Man hatte versucht, das Gewerbe aus der Gegend rund um die Kaiserstraße zu verbannen, und viele der einschlägigen Etablissements waren in den letzten Jahren ver schwunden. Aber Sexshops und Kinos gab es noch, und wer wus ste, was er wollte, konnte nach wie vor käufliche Liebe finden und alles, was das Leben schnell und zuverlässig für eine kleine Weile ein bisschen bunter und leichter machte.
    Wirklich spannend wurde die Stadt erst, wenn man unter die Oberfläche tauchte, sich von Kultur zur Subkultur bewegte, um die zu treffen, die das Extreme suchten. Dort, wo alle freiwillig ihre Geheimnisse öffentlich machten. Am Abend, wenn die Banker die Hochglanztürme hinter sich ließen, die Beamten ihre Aktentaschen wegsperrten, dann fielen die letzten Masken. Henry hatte schon so manche fallen sehen. Allerdings war ihr in letzter Zeit die Lust daran vergangen. Das Gespräch mit Anneliese machte ihr zu schaffen. Natürlich waren ihr die finanziellen Probleme vorher schon bekannt gewesen, aber sie hatte diese für eine Wei le erfolgreich ausgeblendet. Die Realität konnte so hässlich sein. Je des Mal wenn sie sich ihr stellen musste, fühlte sie sich zu alt für endlose Partynächte, für Exzesse und One-Night-Stands. Schließlich war sie über dreißig. Missmutig seufzte sie. Und manchmal sehn te sie sich genau deshalb nach den wilden Zeiten zurück: um die Re alität und ihr Alter für eine Weile zu vergessen.

Tag 3 – Mittwoch
    Rimas Demochka lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Straßenlaterne. Sein Blick fixierte die Eingangstür des Bestattungsunternehmens, während er eine Zigarette zwischen seine Lippen steckte. Hinter der Scheibe ging das Licht an, jemand bewegte sich. Die kleine Rothaarige verschwand währenddessen durch das Hoftor. Er war ihr von ihrer Wohnung aus gefolgt, zu Fuß und im gleichen S-Bahn-Wagen, unbemerkt. Aber der Alte da drinnen sollte wissen, dass er da war und auch dass er die Frau im Visier gehabt hatte. Deshalb war er gekommen.
    Die Kleine sollte er in Ruhe lassen. Noch. War auch nicht sein Geschmack. Er mochte die großen Dünnen lieber. Aber wenn es sein musste, für einen guten Zweck sozusagen, dann nahm er jede ran.
    Für weitere fünf Minuten verharrte er regungslos auf seinem Posten. Der Alte klebte förmlich hinter der Gardine und starrte zu ihm hinüber. Grinsend schnippte Rimas die Kippe über die Straße und schlenderte gemächlich davon.

* * *

    Zum dritten Mal begann Henry damit, die Wattetupfer zu zählen. Verärgert warf sie Zettel und Stift auf den Tisch. Nicht, dass es wirklich wichtig gewesen wäre, wie viele Tupfer in der Schublade steckten. Aber sie hatte leider nichts Besseres zu tun, als die Materialbestände zu überprüfen. Doch nicht einmal darauf konnte sie sich konzentrieren. Schon beim Aufstehen hatte sie ein unangenehmes Kribbeln gespürt, eine Handbreit unter den Rippenbögen, wie vor einer wichtigen Prüfung. Mephisto führte sich auf wie tollwütig, stellte das Nackenfell, buckelte und zerkratzte ihr den Handrücken, als sie nicht schnell genug die Tür für ihn öff nete. Lag ein Gewitter in der Luft? Die Morgendämmerung färb te den schmutziggrauen Himmel mit einem zusätzlichen Streifen Schwefelgelb. Sie hatte sich die Kopfhörer in die Ohren gesteckt, die Musik laut gedreht und war zur Arbeit gehetzt. Ja, gehetzt, so fühlte sie sich. Immer

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