Die Wundärztin
Seume? Sein Fluchen hallte noch in ihren Ohren nach, zu sehen aber war er nirgends. Sie kämpfte sich näher an die Trümmer heran. Wahrscheinlich hatte der Regen den Grund um die Stützbalken aufgeweicht. Steil ragten zersplitterte Holzstücke in die Luft. Ein gutes Dutzend Männer waren stumm damit beschäftigt, die herumliegenden Bruchstücke auseinanderzureißen. Nach und nach erklangen erste Rufe, schließlich bekam eine Stimme Oberhand und übernahm es, knappe Befehle an die anderen zu erteilen. Je länger Magdalena den Männern zusah, umso klarer wurde ihr, dass dies nicht allein um des Aufräumens willen geschah. Emsig schienen sie nach etwas zu suchen.
Inzwischen war es zwar heller geworden, dennoch schien die Düsternis des Unwetters die Nacht selbst in den anbrechenden Tag hinein fortsetzen zu wollen. Das Licht reichte gerade aus, um sich in den Schuttbergen zurechtzufinden. Erneut pfiff ein ungemütlicher Wind über den Platz. Weit entfernt grollte der Donner. Die Gesichtszüge der wühlenden Männer wirkten verbissen, spiegelten sowohl Furcht als auch Häme wider, wie sie verwundert bemerkte. Dunkel schwante ihr, wonach, vielmehr nach wem sie suchten: nach Hagen Seume, dem seiner üblen Launen wegen allseits gefürchteten Profos. Als Magdalena Meister Johann erspähte, der ebenfalls aufgeregt die Latten und Balken durchforstete, war sie sich sicher: Seume musste unter dem eingestürzten Gebälk begraben liegen, als sei der Galgen angesichts der drohenden Hinrichtung Erics wütend über ihm zusammengebrochen.
Zitternd rieb Magdalena sich die Arme. Wahrscheinlich war er ohne Hilfe in trunkenem Zustand die Stufen zum Podest hinaufgeklettert. Eine wahnwitzige Idee! Schon im Zelt hatte er sich kaum mehr auf den Beinen halten können. Auf den regennassen Holzbohlen musste er ausgeglitten und hingeschlagen sein. Unter seinem Gewicht war die gesamte Konstruktion auf dem regendurchweichten Boden ins Wanken geraten und zusammengestürzt. Entsetzt schüttelte Magdalena den Kopf.
Der Fluch, den der Profos im Fallen ausgestoßen hatte, wollte ihr nicht mehr aus dem Sinn. Kurz schloss sie die Augen, schluckte. Ein solches Ende wünschte sie nicht einmal ihm. Wie würde es weitergehen? Fand die Hinrichtung trotz des bösen Omens noch statt? Ihre Finger umklammerten den Bernstein. Fast hätte sie laut aufgelacht. Eric konnte gar nicht zum Richtplatz geführt werden. Zunächst einmal musste Seume unter den Trümmern geborgen und versorgt werden. Noch ging es um Leben und Tod. Erst wenn das überstanden war, konnte über alles andere entschieden werden.
»Hier liegt er!«, rief einer der Steckenknechte und begann, kräftig an den Balken und Holztrümmern zu zerren. Es knirschte gefährlich. Ein eben erst aufgeschichteter Stapel Latten geriet ins Wanken. Ein anderer sah das, ließ die Bohlen fallen, die er gerade aufgerafft hatte, und eilte dem Steckenknecht zu Hilfe. Im letzten Moment verhinderte er, dass ein weiterer, mannshoch aufragender Balken umfiel und den Steckenknecht unter sich begrub.
»Seid vorsichtig, sonst liegen wir bald alle zerschmettert am Boden«, mahnte Meister Johann und wischte sich die Stirn. Wieder war sein Gesicht rot angelaufen, die Adern an den Schläfen geschwollen. Wie so oft schenkte er der eigenen Gesundheit nicht die geringste Beachtung, um einem anderen das Leben zu retten. Und das ausgerechnet Hagen Seume! Magdalena schüttelte den Kopf. Angewidert dachte sie an die fleischigen Hände, den wollüstigen Blick, das gierige Lippenlecken, mit dem Seume sie belästigt hatte. Sollte das Ekel doch grausam unter den Trümmern des Galgens verrecken! Was kletterte er auch sturzbetrunken auf dem halbfertigen Gerüst herum? Nicht auszudenken, was noch alles hätte passieren können, wenn der Galgen in die andere Richtung umgefallen wäre. Ein kurzer Blick genügte Magdalena, um zu wissen, dass das Zelt des Quartiermeisters dort hinten noch unbeschadet stand. Keine fünf Tage war es her, dass seine Frau niedergekommen und mit Roswithas Hilfe einem entzückenden kleinen Mädchen das Leben geschenkt hatte. Wenigstens hatte Seume weder die junge Erdenbürgerin noch weitere Menschen mit ins Verderben gerissen.
»Lebt er noch?«, rief sie dem Feldscher zu und versuchte, an ihn heranzukommen, um ihm zur Hand zu gehen. Vornübergebeugt sah er zu Boden. Vorsichtig schob er eine Holzlatte zur Seite, griff nach einer dicken, weißen Hand und fühlte den Puls. »Schnell, Beeilung, helft mir, ihn hier
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