Die Wundärztin
saß sie in diesem Verlies, tief unter der Erde, nicht wissend, wann oder ob sie jemals wieder herauskäme. Tatenlos musste sie geschehen lassen, dass sich ihre kleine Tochter von Minute zu Minute immer weiter von ihr wegbewegte. Dass Elsbeth wahrscheinlich alles daransetzte, die Kleine nicht nur möglichst weit fortzuschaffen, sondern auch in ihrem Köpfchen jede Erinnerung an ihre Mutter auszulöschen. War sie überhaupt jemals ganz ihr Kind gewesen? Stets war sie auf die Cousine angewiesen gewesen, dass sie Carlotta stillte. Steckte dadurch nicht längst mehr von Elsbeth als von ihr in dem Kind? Verzweifelt schluchzte Magdalena auf.
Der Aufschrei hallte von den feuchten Wänden wider. Um nicht noch einmal solchen Lärm zu verursachen, schob sie sich die Faust in den Mund. Die Tränen rannen fortan lautlos die Wangen hinab. Das Bild ihres Kindes an der nackten Brust der Cousine, gierig saugend – nie würde sie das aus dem Kopf bekommen!
Reglos kauerte sie an der Wand dicht bei der Tür. Rupprecht hockte an der gegenüberliegenden Seite, so weit entfernt wie möglich. Sie sah nicht mehr zu ihm, genauso wenig, wie er sich um sie kümmerte. Eine unüberwindbare Kluft hatte sich nicht erst in den letzten Stunden zwischen ihnen aufgetan.
Mutterseelenallein steckte sie also in diesem verdammten Kloster bei Würzburg fest. Je länger sie hier hockte, desto verzweifelter erschien ihr die Situation. Wie oft hatte sie zu Lebzeiten ihres Vaters in der fränkischen Stadt gewohnt, wie viele schöne Erinnerungen hatte sie an diese Aufenthalte. Und obwohl sie hier zahlreiche Menschen kannte, wagte sie sich nicht auszumalen, wie diese auf ihre Bitte um Beistand reagieren würden. Durch die Fluchthilfe für Eric trennte sie mehr als nur eine Flussbreite von den alten Freunden und dem wohlgefälligen Leben im Tross. Nie würde sie Eric verzeihen, dass sie seinetwegen ihre Tochter preisgegeben hatte. Bei diesem Gedanken rollten die Tränen noch heftiger, klebten die Wimpern aneinander. Erschöpft schloss sie die Augen.
Von fern hörte sie ein Geräusch. Es klang wie das Stöhnen des Kroaten. Sein Blick, den er ihr zuletzt zugeworfen hatte, hatte sich in ihrem Kopf eingebrannt. Auf ewig war ihm die gnädige Erlösung verwehrt – und sie trug die Schuld daran. Warum hatte sie nicht rechtzeitig erkannt, wie es um ihn stand? Entweder hätte sie gleich bei der ersten Operation den Arm abnehmen oder ihn am Fieber krepieren lassen sollen. Das war wohl Rupprechts Absicht gewesen. Vielleicht besaß er doch das größere Talent als Feldscher. Womöglich ging er besser auf das ein, was die Patienten von ihm erwarteten, las es ihnen von den Augen ab, hörte selbst die unausgesprochenen Wünsche. Sie sollte sich nicht mehr als Wundärztin versuchen. Schon bei ihrem letzten gemeinsamen Einsatz mit Meister Johann am Rande des Schlachtfelds von Amöneburg hatte sie das gespürt. Hätte sie vor zwei Jahren in Freiburg Babettes Rat befolgt und diesen unbekannten Vetter in Köln geheiratet, wäre Carlotta noch bei ihr. Und auch all das andere Elend wäre nicht geschehen. Hätte, wäre, mochte – nie fanden diese Gedankenspielereien ein befriedigendes, gar glückliches Ende! Ob es ihr Los war, stets die falsche Entscheidung zu treffen?
Blind tasteten ihre Finger nach dem Bernstein. Plötzlich begann sie stärker zu zittern. Sollte sie sich den Stein nicht vom Hals schaffen? Vielleicht barg er das Unheil in sich? Schutz und Kraft jedenfalls gewährte er ihr nicht mehr. Schon umklammerte sie die Lederschnur, wollte an ihr reißen. Doch dann brachte sie es nicht über sich. Sie konnte nicht die letzte Verbindung zu Eric und Carlotta zerstören. Weinend vergrub sie das Gesicht in den Händen.
Wieder schien eine Ewigkeit vergangen. Oder waren es nur wenige Atemzüge? Sie vermochte es nicht zu unterscheiden. So eng wie möglich hatte sie sich den Rock um die Beine geschlungen, die Füße daruntergezogen. Mit den Armen umfasste sie die Knie, legte den Kopf darauf und hauchte gelegentlich in den eigenen Schoß. Das spendete wenigstens etwas Wärme. »Heute geschieht wohl nichts mehr.« Ziellos sprach sie das in die Dunkelheit. Ihre Stimme klang heiser. Sie räusperte sich und hob den Kopf.
Rupprecht reagierte nicht. Er kauerte weiter mit dem Rücken zur Wand in der Ecke, die Arme auf die Knie gestützt, das Gesicht starr nach vorn gerichtet. Seine schmalen, langen Finger hatte er ausgestreckt, stemmte sie immer wieder gegen das Kinn.
Das Warten
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