Die Wundärztin
war eine Qual, insbesondere, da sie die Ängste und die Ungewissheit nicht miteinander teilen wollten. Seufzend wandte sie sich von Rupprechts schemenhaften Umrissen ab und ließ den Blick zum tausendsten Mal durch das schmale Verlies wandern. Bis auf einen kniehohen Mauervorsprung an der rechten Längsseite sowie eine leere Kiste in der linken Ecke war es leer. Modergeruch hing in der Luft.
Von der Maueröffnung rechts oben fiel plötzlich ein Lichtstrahl herein. Jemand musste vor der Luke eine Laterne abgestellt haben. Seltsam, dass sie sich nicht davor fürchtete, sich geradezu erleichtert fühlte, weil etwas geschah. Hastig sprang sie auf, stellte sich unter der Öffnung auf die Zehenspitzen, die Hände stützend gegen die Mauer gepresst, den Kopf nach oben gereckt. Trotzdem konnte sie nicht sehen, was dort vor sich ging, und horchte in das gleißende Licht hinein. Stiefelschritte knallten über das Pflaster, Befehle wurden gerufen, Holzkisten über den Boden geschleift, Karren herangerollt. Im Stall, der auf der gegenüberliegenden Hofseite lag, wieherten Pferde, ein Ochse stieß ein dunkles, missbilligendes Muhen aus. Bald klapperten die ersten Hufe über den Boden.
»Jetzt brechen sie wohl doch auf!« Sie wandte sich um und suchte, sobald sich ihre Augen erneut an das Dunkel gewöhnt hatten, nach Rupprecht. Auch der hatte sich erhoben und schüttelte seine steif gewordenen Glieder aus. »Was machen sie jetzt mit uns? Ist es nicht unvernünftig, sich unserer nicht vor dem Aufbruch noch zu entledigen? Was führt der Hauptmann im Schilde?«
Sie trat auf ihn zu, um sein Gesicht zu studieren. Geräusche vom Gang lenkten sie ab. Feste Schritte kamen heran und stoppten erst kurz vor dem Verlies. Eine barsche Männerstimme befahl: »Mach auf!«, dann drehte sich bereits der Schlüssel im Schloss, und die Tür flog auf.
Im Schein einer Fackel erkannte sie den schwedischen Hauptmann, in seinem Gefolge zwei der finster dreinblickenden Soldaten, die sie ins Verlies geworfen hatten. Mit gezückten Säbeln drängten sie in das enge Verlies. Schon klirrten die Klingen hart gegeneinander, blitzte der Stahl in dem schwachen Lichtstrahl. All dessen hätte es gar nicht bedurft, um ihr Respekt einzuflößen. Ihr wurden die Knie weich. Einzig die Aussicht, dass das Warten ein Ende hatte, hielt sie aufrecht.
»Mitkommen!«, herrschte der Hauptmann sie mit seiner tiefen, fremd klingenden Stimme an. Das flackernde, rotgelbe Licht verwandelte sein sanftmütiges Antlitz in eine Fratze. Barsch packte er sie am Arm und zerrte sie zwischen den beiden Männern hinaus.
»Rupprecht!«, schrie sie und warf ihm über die Schulter einen verzweifelten Blick zu. Sie streckte die Hand aus in der Hoffnung, er würde sie festhalten. Er konnte sie doch nicht allein gehen lassen! Er aber schüttelte nur den Kopf und legte die Finger an die Lippen. Wie konnte er tatenlos zusehen, dass man sie wegschleppte?
Auf dem Weg nach oben gehorchten ihr die Füße kaum. Ihr Handgelenk schmerzte, so fest umklammerten es die Finger des Hauptmanns. Weit holte der Schwede beim Gehen mit seinen langen Beinen aus. Ihr blieb nichts übrig, als neben ihm herzustolpern wie ein kleines Kind, das das Laufen noch nicht beherrscht. An den unebenen, viel zu hohen Treppenstufen schlug sie sich die Knie mehrfach an. Um den Schmerz zu unterdrücken, biss sie sich auf die Lippen.
Im Kreuzgang angekommen, stieß er sie jäh nach vorn und ließ sie im selben Augenblick los. Von dem unverhofften Schwung fiel sie auf die Knie und schlingerte über den glatten Steinboden. Wütend und beschämt blieb sie liegen, hob nicht einmal den Kopf, um sich umzusehen. Sie wusste auch so, wo sie sich befand: in der kalten Empfangshalle direkt hinter der Klosterpforte. Starr blickte sie auf die grauen Steinplatten am Boden. Ihre Finger suchten sich festzukrallen, kratzten allerdings nur an der oberen Schicht, so dass sich kleine Steinchen und Erde unter ihren Nägeln sammelten.
Um sie herum standen ein halbes Dutzend der ehemals versehrten Soldaten, allesamt ihre Patienten in den letzten Wochen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie die Verletzungen jedes Einzelnen vor sich, erinnerte sich an die Salben, die sie ihnen auf die schmutzige Haut geschmiert, an die Tropfen, die sie ihnen in den Mund geträufelt, an die Trostworte, die sie ihnen in der Verzweiflung, einen Finger oder gar den Fuß verloren zu haben, zugeflüstert hatte. Faul roch ihr Atem, faul rochen ihre geschundenen Körper. Die
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