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Die Wundärztin

Die Wundärztin

Titel: Die Wundärztin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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trank sie einen Schluck Wasser aus einem bereitstehenden Krug und benetzte sorgfältig die Lippen, damit die Erfrischung länger vorhielt. Ihre Finger zitterten. Instinktiv fassten die Hände zur Brust, suchten den Bernstein unter dem Mieder. Sie musste zur Ruhe kommen, alles um sich herum vergessen und sich allein auf die Behandlung konzentrieren. Der Bernstein würde ihr die Kraft schenken, die richtige Entscheidung zu treffen. Ein weiteres Mal holte sie tief Luft. Den Stein aber ertastete sie nicht. Fahrig strich sie über den Stoff. Nichts. Ihr wurde bang. Es musste eine Täuschung sein. Seit Jahren trug sie den Bernstein sicher unter dem Mieder. Nachdem Eric ihr damals in Freiburg vorwurfsvoll den verlorenen Stein vor Augen gehalten hatte, achtete sie noch besser auf ihn. Wahrscheinlich lag es an der Anspannung, dass sie ihn nun nicht gleich fand.
    »Magdalena!« Rupprecht, der sich ihr gegenüber in Höhe von Erics Brust postiert hatte, um die Lampe zu halten, sah sie vorwurfsvoll an. »Fang endlich an, bevor uns der Kerl krepiert!«
    »Ruhig Blut«, mahnte Meister Johann. Die dunklen Schweißflecke auf seinem Hemd verrieten, wie es um ihn stand. Wieder einmal war er nicht mehr in der Lage, selbst zu den Instrumenten zu greifen, und hatte widerspruchslos eingewilligt, dass Magdalena operierte. Bedächtig ließ er sich neben Erics Kopf nieder und hielt den Branntweinschlauch in der einen und den mit einem Kräutersud getränkten Schwamm in der anderen Hand. »Wenn wir uns gegenseitig angreifen, hilft das keinem von uns. Der Profos will den Mann lebend, um ihn zu hängen. Das wirst du schon hinkriegen, Magdalena. Mein Vertrauen hast du.«
    Augenscheinlich war ihm klar, dass sie trotz des Tuches über dem Gesicht wusste, wen sie vor sich hatte, und in welcher Lage sie sich befand: Rettete sie Eric durch die Operation das Leben, wurde er hingerichtet. Starb er unter ihrem Messer, lud sie schwere Schuld auf sich und würde sie obendrein alle zusammen an den Galgen bringen. Mühsam schluckte sie. Die Sorge um den Stein musste sie vergessen. Es gab Dringenderes. Denk an Carlotta!, mahnte sie sich. Der Kleinen half es am wenigsten, wenn Eric unter ihren Händen starb. Überlebte er für ein paar Tage, konnte sie ihn wenigstens ein Mal sehen. Für sie musste es ihr gelingen, ihn zu retten.
    »Verflucht noch mal, Magdalena, tu endlich was!«, schrie Rupprecht sie an.
    Behutsam begann sie, die Wundränder zu säubern. Kleine Fetzen Stoff sowie einzelne Stückchen Dreck pulte sie mit einer Pinzette heraus. Nach jedem Handgriff säuberte sie die Spitzen des Instruments an Erics grobem Leinenhemd. Tief über ihn gebeugt, sammelten sich die Schweißtropfen an ihrer Nasenspitze. Sie seufzte vor Anstrengung. Eric antwortete mit einem Wimmern, das allmählich zu einem Wehklagen anschwoll. Unruhig begann er, den Kopf hin und her zu werfen. Das Leintuch über seinem Gesicht drohte herunterzurutschen. Rasch schob es Meister Johann wieder zurück. Das Fieber hatte Eric fest im Griff, sein Körper glühte, die Haut glänzte vor Feuchtigkeit.
    »Festhalten!«, zischte Magdalena dem Feldscher zu. Gleichzeitig bedeutete sie Rupprecht, die Lampe niedriger zu halten. Auch wenn die Sonnenstrahlen durch den dünnen Stoff der Zeltplane drangen, reichte das gelbliche Licht für die schwierige Operation nicht aus. Erics Kopfbewegungen wurden heftiger, sein Stöhnen drängender. Schon versuchte er, den Oberkörper aufzurichten. Meister Johann musste alle Kraft aufbieten, ihn unten zu halten. Jede abrupte Bewegung mitten in der Operation konnte seinen Tod nach sich ziehen. Bald schwitzte Magdalena am ganzen Körper, konnte sich nicht einmal die Nässe aus dem Gesicht wischen, weil sie mit beiden Händen über der Wunde arbeitete. Die Schweißperlen rannen ihr die Schläfen hinab, sammelten sich am Hals zu kleinen Rinnsalen und sickerten von dort langsam in die Senke zwischen ihren Brüsten. Ihr Mieder klebte schwer auf der Haut. Vornübergebeugt schielte sie in den Ausschnitt. Erschrocken zuckte sie zusammen. Da fehlte wirklich etwas! Oder war es nur eine Täuschung? Ohne nachzudenken hob sie die Hand, wollte an den Stein fassen. Nichts!
    »Bist du wahnsinnig? Was machst du da?« Rupprecht hatte seine Stimme nicht mehr im Zaum. Arme fuchtelten durch die Luft, Männerschreie gellten auf. Magdalena begriff nur langsam. Ihr wurde heiß und kalt zugleich. Gerade hatte sie den Patienten im Stich gelassen! Meister Johann konnte ihn nicht mehr halten.

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