Die Wundärztin
Der Stein gehört ihr. Ich habe ihn mir ausgeliehen, um die Kleine zu beruhigen.«
Schlagartig wurde es still im Zelt. Selbst Carlotta hörte auf zu weinen. Die drei Erwachsenen sahen sich verwundert an.
»Du elende Lügnerin!« Magdalena löste sich als Erste aus der Erstarrung und spuckte angewidert aus.
Bevor Elsbeth wusste, wie sie darauf reagieren sollte, machte Magdalena kehrt und rannte mit Carlotta auf dem Arm an Seume vorbei nach draußen. Der sah Elsbeth verwundert an, sagte aber noch immer nichts. Erst da spürte sie, wie die Schamesröte ihr Gesicht überzog. Unterdessen fasste sich Seume an die Brust und tastete von außen sein Wams ab. Wie durch einen Schleier hörte sie, dass er »Gemeine Diebin, meine Tabakdose« murmelte und ebenfalls auf dem Absatz umdrehte, um davonzurennen.
Erst eine ganze Weile, nachdem der Geruch seines aufdringlichen Parfums verflogen war, begriff sie, dass er wohl weiterhin nicht sie, sondern Magdalena für die Diebin hielt. Welch göttliche Fügung! Damit war nicht alles zu spät. Wie von selbst stand ihr eine Idee vor Augen, wie sie die Gelegenheit nutzen konnte. Dazu musste sie Magdalena unbemerkt die Tabakdose zuspielen. Zog sie das Diebesgut vor seinen Augen aus ihren Taschen, stieg sie bei ihm weiter in der Achtung. Gewiss würde er unter diesen Umständen ihrem Wunsch nachgeben und ihr das Kind zusprechen. Eine hinterhältige Diebin wie Magdalena gehörte schließlich hart bestraft. Undenkbar, dass das Kind bei ihr bleiben durfte.
13
Die Augen voller Tränen, sah Magdalena zunächst nicht, wohin sie rannte. Es war auch einerlei, Hauptsache, weit weg von Elsbeth und Seume. Als es ihr in den Seiten stach, blieb sie stehen, setzte Carlotta ab und rang nach Luft. Vorsichtig beugte sie den Oberkörper und presste die Arme gegen den schmerzenden Leib. Dabei baumelte ihr der honiggelbe Bernstein dicht vor der Nase. Langsam richtete sie sich wieder auf. Vergeblich wartete sie auf das Gefühl der Erleichterung. Sie war sich nicht mehr sicher, ob der Bernstein ihr weiterhin Kraft und Glück brachte. Nachdenklich ließ sie ihn durch die Hand gleiten, hielt ihn gegen die Sonne, dass er golden schimmerte. Carlotta reckte ihr die Ärmchen entgegen und brabbelte »Mama, Mama!«.
»Was?« Magdalena brauchte einen Moment, um zu verstehen. Eine angenehme Wärme durchflutete sie. Zum ersten Mal nannte Carlotta sie Mama! Verzückt hob sie die Kleine auf und tanzte mit ihr. Sie jauchzte vor Glück. Was auch immer passierte: Ihr Kind war wichtiger als alles andere. Weder der Bernstein, nicht einmal Eric konnten ihr ähnlich viel bedeuten wie Carlotta. Die Kleine begann zu zappeln. Magdalena setzte sie wieder ab. Unbeholfen zog sich Carlotta an ihren Beinen hoch, machte ein paar tapsige Schritte und strahlte sie an.
»Laufen kannst du auch schon! Du hast aber viel gelernt. Nicht mehr lang, und wir beide laufen um die Wette ums Lager.« Kaum hatte sie das ausgesprochen, überfiel sie tiefe Trauer. Was hatte sie über der Beschäftigung mit dem verwundeten Eric nicht alles bei ihrem Kind versäumt! Sie durfte die Kleine nicht länger so vernachlässigen. Kein Wunder, dass Elsbeth die Mutterrolle immer stärker für sich beanspruchte. Andererseits hatte sie Seume vorhin noch mehr gegen sich aufgebracht. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass die Cousine als würdiger Ersatz für Carlottas weiteres Wohl jederzeit bereitstand.
»Wenn ich das überhaupt noch erlebe«, setzte sie leise hinzu und drückte das Kind fest an sich. Der Nacken der Kleinen war schweißnass, die rotblonden Locken klebten ihr am Kopf. Auch Magdalena schwitzte aus allen Poren. In der prallen Sonne konnten sie nicht bleiben. Einige dürre Weißdornsträucher verhießen Schatten. Erschöpft sank Magdalena zu Boden. Carlotta patschte in die Hände. Wenigstens ihr bereitete der Ausflug Spaß.
»Sieh mal, dahinten!« Magdalena bemühte sich um einen begeisterten Ton. »Die Stadt dort auf dem Berg haben unsere Truppen erobert. Mit Pauken und Trompeten haben sie die schwedische Besatzung davongejagt.« Sie wies auf die Silhouette Amöneburgs. Interessiert, als verstehe sie jedes Wort, folgte das Kind ihrem Blick. Vor ihnen erstreckten sich die brachliegenden Äcker, linker Hand schwoll die Ebene an zu dem Berg, auf dem die Stadt residierte.
»Und dahinten ist der kleine Fluss, der für all die vielen Menschen im Lager das Wasser führt.« Es mochte zwar noch gut eine halbe Meile weiter östlich sein, bis sich das
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