Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wunderheilerin

Die Wunderheilerin

Titel: Die Wunderheilerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
Vom Netzwerk:
die schweren Sachen in die Hütte. Eva saß wieder mit angezogenen Knien auf der Wandbank und starrte aus dem Fenster.
    «Schau, er ist da», sagte sie statt eines Grußes.
    «Wer? Wer ist wo?»
    «Der Mörder. Er ist hier draußen, hinter dem Haus. Er fällt einen Baum.»
    Priska trat hinter Eva und sah aus dem Fenster. Ein junger Mann mit breiten Schultern und nacktem Oberkörper hackte mit einer Axt gegen einen Baum. Der Schweiß lief ihm in Strömen über den Oberkörper. Er holte weit mit dem Arm aus; Priska konnte die Muskelberge gut erkennen, dann hieb er die Axt so kraftvoll in den Baum, dass die Holzspäne links und rechts zur Seite flogen.
    «Dieser Mann war es, der Aurel getötet hat?», fragte Priska.
    Eva nickte.
    «Woher weißt du das?»
    «Seine Mutter war bei mir. Sie bringt mir Brot und Milch, manchmal eine Schüssel Suppe und ein wenig Seife.»
    «Seine Mutter?»
    Priska begriff nicht. Doch dann kam ihr ein Verdacht. «Ist seine Mutter eine alte Frau ohne Zähne mit einem dünnen grauen Zopf?»
    «Ja», erwiderte Eva. «Sie sagte, dass sie dich kennen gelernt hat.»
    Priska setzte sich. Sie war so verblüfft über das, was hier draußen geschehen war, dass ihr die Fragen entfallen waren.
    «Du   … du hast mit ihr gesprochen?», fragte sie schließlich.
    «Ja.»
    «Und?», fragte Priska weiter. «Was nun?»
    «Nichts. Ich beobachte ihn.»
    «Jetzt rede doch endlich mit mir, Eva. Erzähl mir, was geschehen ist!» Priskas Stimme hatte einen flehentlichen Ton.
    Im selben Augenblick verhallte draußen der letzte Axtschlag. Der Mann warf sich einen Arbeitskittel über und verließ, die Axt lässig über der Schulter, die Lichtung.
    «Er geht zum Mittagessen», erklärte Eva. «In einer Stunde kommt er zurück.»
    Priska schlug leicht mit der Hand auf den Tisch, sodass Eva sich umwandte.
    «Erzähl mir, was hier geschehen ist», sagte sie. «Wir machen uns alle Sorgen um dich. Johann ist verzweifelt, und Adam weiß auch nicht, wo er dich noch suchen soll. Du musst mit mir reden, Eva.»
    «Ich habe nichts zu sagen. Einen Tag, nachdem du hier warst, kam plötzlich eine alte Frau. Sie hatte eine Kanne Milch dabei, ein Töpfchen mit Honig und einen Laib Roggenbrot. Sie stellte die Sachen auf den Tisch und setzte sich zu mir ans Fenster. Kurze Zeit später kam der Mann und begann, den Baum zu fällen.
    ‹Melchior heißt er›, sagte sie zu mir. ‹Er ist mein Sohn.› Dann schwieg sie. Wir sahen ihm zu, und nach einer Weile begann die Alte zu erzählen. ‹Er ist mein einziges Kind. Seine beiden Schwestern und sein Bruder sind mir weggestorben. Er ernährt mich, sorgt dafür, dass ich genügend zu essen habe und Holz für den Winter. Er war immer ein guterSohn. Und er war ein guter Arbeiter. Er hat für den Grundherrn auf dem Feld geschuftet.›
    ‹Wer ist der Grundherr?›, habe ich sie gefragt.
    ‹Die Augustiner-Chorherren›, erwiderte die Alte. ‹Schon seit er zwölf Jahre alt ist, hat er sich auf den Feldern und in den Wäldern hier krumm gemacht für die Leipziger Chorherren. Beinahe hatte er das Geld für eine eigene kleine Hütte zusammen. Er wollte heiraten. Gustelies aus dem Dorf. Sie kannten sich seit Kindertagen. Gustelies hütete die Gänse; manche nannten sie deshalb die Gänseliesel. Aber kurz bevor es so weit war, erließen die Chorherren eine neue Steuer. Das gesparte Geld war weg; Melchior begann ganz von vorn. Dann endlich heiratete er seine Gustelies. Sie lebten glücklich, hatten einander von Herzen lieb. Großmutter sollte ich werden. Ich freute mich am Glück der beiden Kinder, die für mich sorgten und mir den Altenteil so leicht wie möglich machten. Dann aber, Gustelies war schon rund wie eine Kugel, kam ein Bluthusten ins Dorf. Melchior ging zu den Chorherren und bat sie, ihm den Zehnt zu stunden, damit er für seine Frau einen Doktor und Arzneien bezahlen konnte. Nun, die Chorherren ließen nicht mit sich reden. Mit Gewalt holten sie, was ihnen zustand. Gustelies starb. Und mit ihr das Kind. Seither hat Melchior einen Hass auf die, die sich an den Armen bereichern. Einen Hass auf die, die Nächstenliebe predigen und sie aber doch nicht walten lassen. Er hat alles verloren. Seit Gustelieses Tod hat er nicht mehr gelacht. Die Wut hat ihm den Mund schmal gemacht. Geschmerzt hat es mich, ihn so zu sehen. Jede Mutter leidet mit ihrem Kind, ganz gleichgültig, wie alt es ist. Aber Melchior hatte noch nicht einmal Zeit für seine Trauer. Er musste auf den Feldern schuften,denn die

Weitere Kostenlose Bücher