Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
alle haben sie auch genauso angeschaut.
Holly_Go!
Kurze Pause, musste sein. Ich hatte den Anfang schnell abgeschickt, damit ich den Text nicht verliere. Wo war ich? Redwood Falls! Tausend Jahre ist das inzwischen her, zumindest meinem Gefühl nach. Wenn ich jetzt darüber schreibe, dann klingt mein Leben, als hätte jemand ein Drehbuch verfasst. Ein Drehbuch zu einem dieser Programmkinofilme, die sich kaum jemand anschaut, weil die Handlung so gewöhnlich ist und eigentlich gar nichts passiert. Nur kleine Dramen, Zufälle, die so hundsgewöhnlich sind, dass es einem noch im Nachhinein wehtut, sich daran zu erinnern. Tut mir leid, ich hoffe, ich langweile dich nicht damit. Es ist eine so verdammt banale Geschichte, wie sie womöglich tausendfach vorkommt. Manchmal träume ich noch von Redwood Falls. Davon, wie es roch. Davon, wie meine Freunde redeten. Ich träume das, was sie sagen, in diesem Dialekt, den ich seit Jahren nicht mehr gehört habe und den ich vermutlich nie vergessen werde. Mein Vater besaß eine Autowerkstatt, Archer’s Garage. Er hat es gemocht, wenn ich ihm auf der Gitarre vorgespielt und dazu gesungen habe. Er war ein so liebenswerter Mensch, ein richtiger Mann, geradeheraus, mit einfachen Interessen, bodenständig wie die Lieder von Bruce Springsteen und Johnny Cash. Eines Tages hatte er einen Schlaganfall, einfach so, und alles war vorbei. Meine Mutter zog ein Wohnviertel weiter und tröstete sich auf ihre Art. Tja, Eugene und Ruth Archer hatten irgendwie nie richtig zueinander gepasst. Aber das sind Dinge, die einem als Kind nicht auffallen, solange die Erwachsenen übermächtig wirken und alles richtig zu machen scheinen. Meine Mutter mochte es nicht, dass ihre Tochter sich für Kunst interessierte. Die Sache mit der Singerei war ihr auch suspekt. Genau das war ihr ganz persönliches Lieblingsadjektiv: »suspekt«. Alles Mögliche war ihr suspekt. Ich natürlich auch. Also habe ich irgendwann die paar Sachen, die mir wichtig waren, in einen Koffer gepackt und bin in den nächsten Zug nach New York gestiegen. Einige Jobs später habe ich mich an der Columbia eingeschrieben. Etwa zu der Zeit hatte meine Mutter ein Verhältnis mit einem Banker. Sie rief mich andauernd an und wollte mit mir über all den verklärten Liebesmist reden, der sie bewegte und den ich ganz bestimmt nicht hören wollte. Heute glaube ich, dass ich es genau in diesem Moment verstanden habe, das ganze Drama der Ehe meiner Eltern. Meine Mutter hat ihren Mann nie wirklich geliebt. Nie so richtig. Nicht so, wie Cary Grant und Katherine Hepburn sich in dem Film geliebt haben. Ich denke, das passiert in vielen Familien, aber da habe ich begriffen, dass es in meiner passiert war, und genau das hat den Unterschied gemacht. Mein Telefon klingelte den ganzen Tag über, und jeder zweite Anruf kam von meiner Mutter, die ich weder sprechen noch sehen wollte. Deswegen mag ich bis heute keine Telefone.
Holly_Go!
Habe ich diese Mail wirklich abgeschickt? Habe ich das alles geschrieben?
Alex Hobdon
Ja, das hast du. Aber weshalb sich Gedanken machen? Jetzt weiß ich, warum du den Zug genommen hast.
Alex Hobdon
Bist du noch da? Melde dich …
Holly_Go!
Eigentlich wolltest du beginnen. Dann habe ich diese Antwort geschrieben; aber eigentlich wolltest du auch eine Geschichte erzählen. Schreib jetzt nicht, dass es zu spät ist. Die Sonne geht noch lange nicht auf. Was ist mit deiner Tasche, du musst noch die Tasche packen, oder?
Alex Hobdon
Das hat Zeit. Die Tasche ist schnell gepackt. Wichtig ist, die richtigen Songs auf dem MP3-Player zu haben. Aber ich will nicht ablenken. Du möchtest wissen, was meine Gründe waren. Warum ich damals in den Zug gestiegen bin. Noch ein kleines, banales Drama zur Nachtstunde. Brooklyn ist so still, selbst wenn es laut ist. Ich frage mich gerade, wie viele Menschen es da draußen gibt, hinter den Fenstern all der Häuser, die wir Tag für Tag sehen und an denen wir vorübergehen, ohne daran zu denken, dass es Leben und Schicksale sind, die in jedem einzelnen von ihnen verborgen sind. Tja, seltsame Gedanken in der Nacht. Hier ist meine Geschichte. In der kurzen Version geht sie so: Meine Eltern sind reich. Stinkreich. So unglaublich, abschreckend, verdammt, verdammt reich. Mein Vater ist Kurt Hobden. Ein Name, den sicherlich jeder kennt, der etwas mit Investmentbanking zu tun hat. Nicht mal sein Lachen war echt. Dafür war es perfekt, wie alles an ihm. Meine Mutter, Eleonor Hobden, war hübsch, und
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