Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
wirklich allerletzten Mal, und verließ die Wohnung, ohne die Tür abzuschließen, um im Notfall auch ohne Schlüssel wieder hineinzukommen.
Der Tag konnte beginnen.
Draußen schien die Sonne, und entsprechend beschwingt fühlte sich Faye. Ian Hedges und der Anruf waren bereits vergessen.
Brooklyn am Morgen war wie ein Lied, das gerade erst begonnen hatte. Alles war noch langsam. Die Menschen hatten noch die vagen Träume der Nacht in den Augen und versuchten, die septemberliche Wirklichkeit zu packen, indem sie selbige durch den duftenden Dampf aus Pappbechern betrachteten. Das Licht machte aus allem eine Fotografie wie aus den frühen Siebzigern, und das Gefühl, sich an einem Ort zu befinden, der so weit entfernt vom hektischen New York der Postkarten und Fernsehsendungen war, wie es nur ging, umgab jede einzelne Bewegung wie eine sanfte Farbe.
Faye hatte spontan beschlossen, zu Fuß zur Arbeit zu gehen. Sie würde ein wenig länger brauchen, könnte sich aber unterwegs eine Pause beim Zeitungsstand in der Joralemon Street gönnen und die Schlagzeilen des Tages überfliegen, denn sie hasste es, schon am Morgen den Laptop einzuschalten und zu surfen. Außerdem mochte sie den Geruch des Zeitungspapiers, das Rascheln und die Druckerschwärze an ihren Fingern.
Der kleine Buchladen namens Real Books, in dem sie tagsüber arbeitete, lag gleich an der Ecke Court Street und State Street, keine zehn Minuten von ihrer Wohnung entfernt, wenn man schlenderte. Wie jeden Morgen, wenn sie diesen Weg entlangging oder -radelte, so kam es ihr auch heute vor wie ein Geschenk, das alles tun zu können. Sie dachte an die vielen anderen Jobs, die sie gehabt hatte. Keiner davon war wirklich prickelnd gewesen, doch dann hatte der Zufall zugeschlagen wie in einem Film.
Vor zwei Jahren hatte Faye einen Yogaworkshop besucht. Auf Anraten von Dana, natürlich, denn damals war Yoga der neue Trend gewesen. Dort hatte sie Mica Sagong kennengelernt. Mica, der, wie sie später herausfand, auch selbst Yogakurse gab, belegte gewöhnlich die Matte neben ihr, war einen Kopf größer als sie, ein großer Koreaner, und sah aus wie der Held in einem Kung-Fu-Film. Er hatte schwarzes, sauber geschnittenes Haar und einen Körper, der nur aus Muskeln bestand. Er trug immer Schwarz, seine Haltung war perfekt, aufrecht, kraftvoll, die Bewegungen anmutig, und er schien so sehr in sich zu ruhen, dass er wirklich nichts von dem Getuschel der anderen Kursteilnehmer mitbekam, angefangen bei Äußerungen wie »Der redet mit keinem« und »Komischer Typ« bis hin zu boshaften Unterstellungen.
Das mit dem Reden konnte Faye bestätigen. Anfangs sagte er kein Wort, war vollends konzentriert. Doch dann, im dritten Kurs, sprach er Faye an. »Du stehst falsch.«
Sie schenkte ihm ein Lächeln und sagte: »Namaste.«
Er schüttelte den Kopf und wiederholte: »Du stehst falsch.«
Faye, die es sich gerade auf der Matte bequem machen wollte, verteidigte sich: »Wir haben noch gar nicht angefangen.«
»Nein, nein, du stehst auf der falschen Seite.« Seine Stimme klang weich und sanft und irgendwie beruhigend.
Dennoch hatte sie keine Ahnung, was er meinte.
»Beim letzten Mal standest du rechts von mir«, erklärte er geduldig.
»Und?«
»Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du links von mir stehst. Du stehst immer rechts von mir. Es hat mit der Ordnung der Dinge und dem Gleichgewicht zu tun.« Dann bat er sie höflich, doch, wenn möglich, die Matte zu seiner Rechten zu belegen. »Ich kann natürlich auch die Matte neben dir nehmen.«
»Kein Problem.« Faye wechselte die Matte.
»Namaste«, sagte der Koreaner und grinste.
Nach dem Kurs lud er sie auf einen Tee ein.
»Ich bin Faye Archer.«
»Mica Sagong«, stellte er sich vor.
Sie tranken Ingwertee in einem Imbiss namens TanDa Two an der Flatbush Avenue, benannt nach dem vietnamesischen Dichter, wie das gleichnamige und bekanntere Restaurant an der Park Avenue. Faye redete, und Mica hörte zu, wobei ihr nicht auffiel, dass sie diejenige war, die viel redete.
»Du kannst das gut.« Ihr Kompliment bezog sich auf das Yoga.
»Ich weiß«, sagte er sachlich.
Dann erfuhr sie, dass er ein richtiger Shaolin war. Ein Shaolin aus New York, der seine Vorliebe für amerikanische Literatur pflegte und die Comics von Marvel und DC liebte. Insbesondere eine hübsche Superheldin im sexy Outfit namens Onyx hatte es ihm angetan.
»Sie hat der grausamen Gewalt in der Welt entsagt und ist einem Ashram-Tempel
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