Die wundersame Reise einer finnischen Gebetsmühle
als sie diesen Ort, eine der abgelegensten und zugleich berühmtesten Städte der Welt, sahen.
Der Luxuszug glitt vor das neue Bahnhofsgebäude, würdevoll und lautlos wie eine junge Königin. An den Fahnenmasten vor dem Gebäude wehten die roten Fahnen der Volksrepublik China, und in den Laternen auf den hohen Pfählen flammten Lichter auf. Bald würde die Sonne untergehen und die Nacht über Lhasa hereinbrechen. Lauri und Kalle grübelten, wie sie zu einem Hotelzimmer kämen, aber das Problem löste sich gleich auf dem Bahnsteig. Man erwartete sie, ein lächelnder Chinese in mittleren Jahren, bekleidet mit einer blauen Uniform, erspähte sie sofort und näherte sich unter Verbeugungen und mit ausgestreckter Hand, um sie zu begrüßen. Lauri und Kalle wunderten sich, aber dann begriffen sie, dass jener Reisende, der mit ihnen im Waggon gesessen hatte, vermutlich von unterwegs über sie berichtet hatte.
Der Mann stellte sich vor. Er hieß Ky Khai Jong und war, wie er sagte, Vizedirektor des Tourismusbüros von Lhasa. Er hieß die beiden Finnen herzlich willkommen und bat sie, ihm zu einem bescheidenen Begrüßungsmahl zu folgen.
Vor dem Bahnhof pfiff er einen alten Mann herbei, der die Koffer der Gäste tragen sollte und der Ky zufolge ein echter Tibeter war. Sie gingen ein Stückchen zu Fuß und traten schließlich in einen strohgedeckten Pavillon, ein Teehaus, in dem eine Mahlzeit für drei Personen vorbereitet war. Es gab nach chinesischer Sitte Tee, diesmal einen mit tibetischen Kräutern gewürzten grünen Tee, besonders aromatisch und gesund. Dazu aß man verschiedene kleine, in dünnes Brot eingewickelte Delikatessen: geröstetes und geräuchertes Rindfleisch, Aal, Lachs, Wachteleier, diverse Käse und Pasteten. Alles mundete den Ankömmlingen. Während der Mahlzeit erzählte der freundliche Direktor Ky vom heutigen Tibet und besonders von der Hauptstadt Lhasa. Die gesamte entlegene Gebirgsregion war im Jahre 1959 gewissermaßen in ein neues Zeitalter eingetreten, als nämlich das vaterländische China sie von der Herrschaft der rückständigen Mönche befreit hatte. Der Dalai Lama hatte sich schmählich aus dem Staub gemacht und sich jenseits der Grenze in Indien niedergelassen, um von dort feindselige Propaganda gegen China und gegen Tibet, das er einst mit harter Hand regiert hatte, zu betreiben. Heute wohnten in Lhasa bereits sage und schreibe dreihunderttausend Menschen, und das war doch ein absolut deutlicher Beweis für Chinas günstigen Einfluss auf diesen von Gott und der Kultur verlassenen Erdenwinkel. Schließlich pries der eifrige Ky noch den Umstand, dass heutzutage jährlich bereits mehr als eine Million Touristen Lhasa und Tibet besuchten, was von der Weltoffenheit der Chinesen und von Lhasas heutiger Blüte zeugte. Auch wenn weltweit etwas anderes behauptet wurde, die Tibeter waren glücklich, dass sie unter dem sicheren Schutz einer Großmacht leben durften, ohne sich vor den Angriffen kriegerischer Nachbarn fürchten zu müssen.
Ky verriet noch, dass bis zum Jahr 2020 sogar zwanzig Millionen Touristen Tibet und besonders die Hauptstadt Lhasa besuchen würden. Diese enorme Steigerung wurde schon allein dadurch möglich, dass heute bereits zwei Drittel der Einwohner Lhasas gebürtige Chinesen waren.
»Wenn wir schon eine Verschmelzung anstreben, dann ganz sicher auch mit ordentlichen Ergebnissen«, prahlte der Direktor.
Lauri bemerkte Kalle gegenüber beiläufig, dass Direktor Ky ein netter Mann sei. Sonnig lächelnd erwiderte Ky auf Englisch, dass er in keiner Weise nett oder lustig sei, er repräsentiere lediglich das geliebte große Vaterland und versuche, das in bestmöglicher Weise zu tun.
Nun wussten die beiden Freunde also, dass der Mann, der als ihr Gastgeber fungierte, auch Finnisch verstand, was er verheimlicht hatte. Sie hatten es hier mit einem Typen zu tun, vor dem sie sich in Acht nehmen mussten. Ein chinesischer Geheimpolizist der übelsten Sorte.
Schmeichlerisch erkundigte sich der Spitzel, was die finnischen »Freunde« in Tibet und Lhasa sehen wollten und welches Programm er ihnen bieten könnte.
Kalle und Lauri erklärten, dass sie einfach nur als Touristen gekommen seien, aber gleichzeitig interessiere sie das altehrwürdige tibetische Mönchstum. Sie wollten gern eines der großen Mönchsklöster besuchen und sich mit den Mönchen unterhalten, vielleicht ließe sich das einrichten. Außerdem wollten sie natürlich die Hauptstadt und das Gebirge der nahen
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