Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
meiner Kalaschnikow streiche ich den Vorhang einer Kammer beiseite. In dem winzigen Raum steht ein schmales Feldbett aus Metall, und an der Wand hängt ein einfaches Kreuz. Auf dem Bett liegen eine Jacke und eine Hose aus Sackleinen, ordentlich zusammengelegt. Sonst nichts. Kein Laken, keine Decke, kein Kissen.
Ich überprüfe zwei weitere Kammern, die genauso beschaffen sind wie die erste.
»Hier ist niemand«, sagt Diop und schüttelt den Kopf.
Wir können nicht feststellen, wann der Anhänger verlassen worden ist. In der Rückwand des Gemeinschaftsraums bemerken wir eine offene Tür.
Durand winkt.
»Weiter. Du als Erster, Pauli. Ich benutze eine M84.«
»In Ordnung.«
Der Hauptmann schleicht zur Tür und wirft eine Blendgranate in den nächsten Raum.
Eine Explosion donnert, und gleißendes Licht kommt durch die Tür.
Feldwebel Wenzel springt über die Schwelle, die Waffe bereit.
Wir folgen ihm, als Diop das Zeichen gibt.
Und dann bleiben wir verblüfft stehen.
Vor unseren Augen zeigt Gottschalls sogenannte »Kathedrale« eine weitere Szene, die direkt aus einem Albtraum zu stammen scheint. Das Licht einiger fast ganz heruntergebrannter Kerzen fällt auf Leichen. Diese Leute sind offenbar keinen leichten Tod gestorben; darauf deuten die schmerzverzerrten Gesichter und die zusammengekrümmten Körper hin. Neben jedem Leichnam steht ein Becher. Ein großer Topf direkt unter dem Kreuz enthält eine blaue, süßlich riechende Flüssigkeit.
Einige der Toten tragen die schwarze Uniform von Gottschalls Elitesoldaten. Ich erkenne nur eine Person: die junge Frau mit den leeren Augenhöhlen, die mir den Weg aus diesem Raum gezeigt hat. Es liegt erst einige Tage zurück, und doch scheint ein Jahrhundert vergangen zu sein.
Wir haben damit gerechnet, kämpfen zu müssen und vielleicht bei dem Versuch zu sterben, Gottschall für seine Verbrechen zu bestrafen.
Dies haben wir nicht erwartet.
Die Leiche der blinden Frau ist halb zerstückelt. Es fehlen große Teile der Oberschenkel und Gesäßbacken. Jemand hat sie regelrecht geschlachtet und die besten Teile genommen, wie bei einem Tier.
»Wir müssen ihn erledigen«, flüstert Diop. »Und wenn es das Letzte ist, das wir tun. Er ist das Böse.«
Durand nickt.
»Da bin ich ganz deiner Meinung. Jemand muss dem Wahnsinnigen das Handwerk legen.«
Er gibt dem bestürzt auf die Toten starrenden Feldwebel ein Zeichen, und Wenzel nickt bestätigend. Zusammen mit dem Hauptmann geht er vorsichtig durch den Korridor, der zur Fahrerkabine führt. Nur dort könnte sich Gottschall versteckt halten.
Diop und ich folgen Wenzel und Durand. Am Ende des dunklen Korridors gibt es Licht – wir gehen schneller.
Wind pfeift durch die Fahrerkabine. Auf ihrem Boden hat sich Schnee angesammelt.
Die Fenster sind zerbrochen und bieten keinen Schutz mehr vor der giftigen Luft.
Wenzel klettert die Leiter zum Fahrersitz hoch.
»Caliban ist hier, Hauptmann!«
»Lebt er noch?«
»Nein. Ein Genickschuss hat ihn getötet. Die Armaturen sind hin. Jemand hat sie mit einem Knüppel zertrümmert.«
Durand schüttelt den Kopf.
»Wo kann der Bursche stecken?«
Dann sieht er nach oben, zur Luke, durch die man auf die Beobachtungsplattform gelangt.
Er gibt Wenzel ein weiteres Zeichen und steigt hinter ihm die Leiter hoch.
Sie öffnen die Luke und sind wenige Sekunden später auf der Plattform, dem heulenden Wind ausgesetzt.
Kurze Zeit später kehren sie enttäuscht zurück.
»Nichts. Der Kerl ist abgehauen.«
»Bei diesem Wind finden wir keine Spuren«, sagt Diop.
»Ich weiß. Eins nach dem anderen. Zuerst machen wir uns auf die Suche, ihr wisst wonach.«
Bevor ich fragen kann, was es mit dem »ihr wisst wonach« auf sich hat, durchsuchen die drei Schweizergardisten die große Fahrerkabine.
Schließlich wird Feldwebel Wenzel fündig und ruft die anderen zu sich.
»Hier haben wir’s.«
Ich nähere mich ebenfalls.
Es handelt sich um die Metallkiste, die ursprünglich aus der Garage mit den Motorschlitten stammt. Die geheimnisvolle Kiste, deren Verlust Durand große Sorgen bereitet hat. Sie scheint intakt zu sein und ist noch in eine grüne Plane gewickelt.
Zum ersten Mal seit fünf Tagen sehe ich ein Lächeln auf den Lippen des Hauptmanns.
Er spricht nur ein Wort: »Wunderbar.«
Ich starre ihn fassungslos an.
Wunderbar?
Wie kann er so etwas sagen, nach allem, was geschehen ist? Wir sind am Ende, und er lächelt?
»Jetzt müssen wir nur noch den Aktivierungscode finden«, fügt
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