Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
stehen, und sein Atem zischt hinter der Gasmaske, als er sie mustert, sie dann mit einem unhöflichen Wink auffordert, hinter die drei Männer mit den Gewehren zu treten. Die junge Frau dreht sich zu ihrer Familie um. In diesem Moment gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man verschließt das Herz, oder man gibt seinen Gefühlen nach. Wofür entscheidet sich die junge Frau? Für die Katakomben und damit das Leben? Oder bleibt sie draußen, um sich von giftiger Luft umbringen zu lassen?
Es liegt keine Großzügigkeit in dem Empfang. Er ist allein zweckbestimmt. Die junge Frau ist schön. Ihre Ankunft vermindert das Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen in der unterirdischen Welt. Die erste Wahl liegt bei den drei Oberhäuptern der Gemeinschaft. Anschließend sind die Wächter an der Reihe. Schließlich, nach einigen Wochen, wird die Frau mit einem Junggesellen verheiratet, mit dem, der am meisten für sie bezahlen kann. So läuft das.
Die Wachen lassen die junge Frau passieren und schließen hinter ihr das Gitter. Das Quietschen und Rasseln des Metalls klingt fast wie ein höhnisches Lachen.
Als die Frau hinabgestiegen und das Gitter geschlossen ist, geben draußen die drei Bewaffneten den zurückgewiesenen Flüchtlingen die Anweisung, ihre Taschen zu leeren. Das Gepäck bleibt liegen. Die Koffer, Einkaufswagen und Trolleys mit den abgenutzten Rädern enthalten so ziemlich alles: Lebensmittel, Wertgegenstände, vor den Flammen gerettete Bücher. Die Wächter führen die Flüchtlinge hinter das Haus. Dort gibt es eine Grube, von einer Plastikplane bedeckt. Einer der drei Männer hebt sie, und daraufhin steigen Fliegen auf. Die Flüchtlinge haben gerade begonnen zu verstehen, was dies zu bedeuten hat, als sie ein Klicken hören, mit denen die Gewehre entsichert werden. Es ist das letzte Geräusch vor den Schüssen.
So ging es über Monate hinweg. Manchmal, wenn die Gruppen klein waren, brachte man sie nach unten, und dann glaubten sie schon, gerettet zu sein. Doch dann wurden sie einfach erschlagen wie Kaninchen. Manchmal, wenn die Wächter es eilig hatten, steckten sie die Flüchtlinge in ein Gewölbe und ließen dann einen Tunnel einstürzen, was bedeutete, dass die Männer, Frauen und Kinder lebendig eingemauert waren.
Die Ankunft der vatikanischen Flüchtlinge stellte diese Auswahlmethode infrage. Maxim hat mir von jenem denkwürdigen Tag erzählt.
Schon seit einer ganzen Weile hatte sich niemand mehr vor den Eingängen der Katakomben gezeigt. Es erhob sich keine Staubwolke in der Ferne, in der kalten Tundra, in die sich das einst fruchtbare Land außerhalb von Rom verwandelt hatte.
Offenbar hatte sich herumgesprochen, was die Bewohner der Katakomben mit Flüchtlingen anstellten. Vielleicht hatte jemand, hinter einer Mauer versteckt, die »Auswahl« beobachtet. Oder es kam niemand mehr aus der Stadt. In den Katakomben wurde die Lage allmählich kritisch. In der Nähe gab es keine Läden und Wohnungen mehr, die geplündert werden konnten. Die beiden nächsten Supermärkte waren leer, und zu weiter entfernt liegenden Geschäften ausgeschickte Gruppen fanden nichts Brauchbares. Die hundertfünfzehn Bewohner der Calixtus-Katakombe mussten die ihnen verbliebenen Lebensmittel immer strenger rationieren. Man munkelte von Plänen, die vorsahen, das Überleben der Gemeinschaft mit dem Verzehr von menschlichem Fleisch zu sichern. Und damit nicht genug. Es kursierten Gerüchte, wonach in den Quartieren der Oberhäupter manchmal »seltsames Fleisch« serviert wurde.
Natürlich waren es nur Gerüchte.
Natürlich.
Und dann, eines Tages, änderte sich alles.
Die Männer des Vatikans kamen bei Tagesanbruch mit einer aus zwölf Militärlastwagen bestehenden Kolonne. Ganz vorn fuhr ein gepanzerter Wagen mit einem weiß-gelben Wappen, das die Wächter am Tor nicht kannten.
Die Fahrzeuge hielten dreißig Meter vor dem Eingang der Katakomben an. In der Stille hörte man nur das Brummen der starken Dieselmotoren. Abgaswolken stiegen in der kalten Luft auf.
Die Fenster der Lastwagen waren getönt; man konnte nicht ins Innere der Fahrzeuge sehen. Eine Zeit lang veränderte sich nichts an dieser Szene, und die Nervosität der beiden Wächter am Tor wuchs. Der dritte war losgelaufen, um die Oberhäupter der Gemeinschaft zu alarmieren.
Zehn Minuten vergingen. Dann löste sich ganz hinten ein schwarzer Wagen aus der Kolonne, mit zwei Fähnchen zu beiden Seiten der Motorhaube, darauf das gleiche weiß-gelbe Wappen, das
Weitere Kostenlose Bücher