Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
heftig, als wollte er mir die Lunge zerreißen? Wir, die wir in Höhlen hausen, umgeben von ewigem Winter … Wir sind so sehr an Lungenkrankheiten gewöhnt, dass wir gar nicht mehr darauf achten, bis sie uns umbringen.
Aber es lässt sich nicht leugnen, dass ich mehr huste, seit ich hier bin. Vielleicht habe ich Fieber. Das Fieber würde viel erklären.
Die Vision. Ein Delirium mit offenen Augen.
Fieber …
Ich glaube, ich könnte für immer hierbleiben.
Mit dem Rücken an die Wand gelehnt.
Es wäre nicht schlecht.
Die leichte Lösung.
Ich könnte einfach hier sitzen bleiben und zusehen, wie mein Leben wie Sand in einem Stundenglas dahinrinnt.
Und dann? Was geschieht nach dem Tod mit mir?
Werde ich dann zu einem der Geister, die sich in dieser Stadt herumtreiben?
Könnte ich Alessia und die anderen wiedersehen?
Welche Erklärung gibt es für dieses halbe Leben?
Oder diesen halben Tod …
Wie lässt sich das mit der christlichen Vorstellung vom Paradies vereinbaren?
Oder von der Hölle?
Ich schlafe ein und lasse mich sinken, wie in tiefes Wasser.
Während mein Bewusstsein schwindet und ich mich im Nichts verliere, glaube ich, ein leises Murmeln zu hören, ein Flüstern, und darin meinen Namen …
Ein Geräusch weckt mich.
Schritte, im Nebenzimmer.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist.
Eine Stunde? Ein Tag?
Ich möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden.
Ich möchte schlafen.
Schlafen …
Ich spüre etwas – es fühlt sich nach einem Atem an, der mir über die Wange streicht.
Ich lasse die Augen geschlossen.
Es ist ein angenehmes Gefühl, dieser Atem auf der Wange. Ich will die Augen nicht öffnen. Ich will nicht sehen.
Kleine, dünne Finger scheinen über Hals und Bart zu tasten.
Ich halte den Atem an.
»Öffne die Augen«, flüstert Alessia.
»Nein.«
»Öffne die Augen, John.«
»Wenn ich sie öffne, verschwindest du. Wie es schon einmal geschehen ist.«
»Ich schwöre dir, dass ich nicht verschwinden werde, wenn du die Augen öffnest. Öffne sie, John.«
»Nein.«
»Du musst gehen. Sofort. Sie kommen, um dich zu holen.«
»Ich bleibe, wo ich bin.«
»Öffne die Augen.«
Tränen glänzen in Alessias Augen.
»Du darfst nicht aufgeben, John.«
»Ich bin müde.«
»Sieh dir diese Karte an.«
»Ich …«
»Sieh sie dir an!«
Mein Blick fällt auf die Karte von Venedigs Brunnen und Zisternen.
»Sieh dir die Karte an! Du musst sie dir ansehen!«
Ich versuche es, aber die roten Punkte und das Grau und Blau der Karte rufen bei mir Übelkeit hervor.
»Kapituliere nicht. Steh auf. Wir haben keine Zeit mehr.«
»Ich bin zu erschöpft.«
»Ich kann dir nicht helfen, John. Du musst es allein schaffen.«
Ich sehe Alessia an. Sie erscheint mir völlig real. Wenn ich die Hand ausstrecke, um ihr Gesicht zu berühren … Was geschieht dann?
»Steh auf, John.«
Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nehme, aber langsam und voller Mühe stemme ich mich Zentimeter für Zentimeter nach oben.
Ich fühle mich wie Frankensteins Monster: schwerfällig, ungelenk, hilflos.
»Folge mir, John.«
Hinter Alessia gehe ich durch einen langen, dunklen Flur, und erstaunlicherweise schwanke und torkele ich nicht. Ich stolpere nicht einmal. Ein sonderbares Licht scheint meine Schritte zu lenken.
Alessia öffnet die Tür, und vor uns erstreckt sich ein kleiner Platz, ein Campiello .
Graues Tageslicht strömt uns entgegen. Kalter Wind drückt mich zurück.
»Komm, John!«
Ich folge der Stimme von Alessia, deren Gestalt sich vage im Schneetreiben abzeichnet: ein etwas dunklerer Schatten, umgeben von Schemen. Der Schal rutscht mir vom Gesicht und weht wie eine rote Fahne hinter mir.
BAMM!
Der erste Schuss trifft die Wand dicht neben meinem Bein.
Dem zweiten entgehe ich mit einem Sprung in eine nahe Gasse.
Splitter kratzen mir durchs Gesicht.
Der dritte Schuss erwischt mich am Arm, dicht unter der Schulter.
Es fühlt sich an, als hätte mich dort ein Fußtritt getroffen. Ich schnappe nach Luft.
Blut tropft in den Schnee.
Der rechte Arm ist halb gelähmt.
Und er tut weh. Er tut höllisch weh.
Meine Lunge scheint platzen zu wollen.
Am liebsten hätte ich mich auf den Boden gelegt, um zu sterben.
Aber ich kann nicht. Die Rettung ist so nahe …
Mit der Karte vor dem inneren Auge laufe ich zum Ende der Gasse und dann nach rechts. Ich weiß, dass es die falsche Richtung ist, dass ich zum Landungssteg der Fondamenta Nuove zurückkehre, wo ich mich nirgends verstecken kann. Aber
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