Die Yoga-Kriegerin
Ermessen. Ich ließ Energie in wirklich kranke Leute fließen, Menschen, die dem Tode nahe waren, weil sie Aids oder Krebs hatten. Das waren Men schen, die am Scheideweg standen: Entweder würde sich ihr Zu stand verbessern oder sie würden sterben. Meine Funktion war es, sie bei diesem Prozess zu begleiten, in welche Richtung auch immer er mündete, doch anfangs hatte ich das nicht verstanden. Ich dachte, meine Mission wäre: Rette sie! Wenn ich das nicht erfüllen konnte, glaubte ich, versagt zu haben. Die Arbeit war sehr intensiv, also lernte ich als Heilerin, die Energie von Kali herbeizurufen, der Hindugöttin des Todes und der Zerstörung, um mir zu helfen.
Kali ist eine mordgierige Hexe von einer Göttin. Sie ist die mit den glutroten Augen, schwarzer, blutbefleckter Haut, der Halskette aus Schädeln, dem Gürtel mit abgetrennten Armen und einer Tasche aus einem Menschenkopf. Das Mädchen war genau mein Typ. (Mein Therapeut sagte mir einmal: »Kein Wunder, dass du in Anbetracht deiner Mutter Kali als Göttin ausgewählt hast!«) Und die Sache mit Kali ist die: Sie ist eine finstere Braut, aber sie wird auch als nährende göttliche Mutter verehrt. In einem Akt des Mitgefühls fegt sie alles hinweg, was sterben muss, sodass das überleben kann, was zu leben verdient. Wenn ich meinen Patienten die Hände auf legte oder sie in verschiedene Yogapositionen führte, schickte ich Kalis Energie in sie hinein, um alle möglichen Geschwülste und Haut schädigungen aufzuspüren, zu jagen und zu töten, um das Tote und Verrottete herauszufegen und damit Platz für lebendiges Gewebe zu schaffen.
Meine Wahl für Kali als heilende Partnerin mag wohl von manchen in der Welt des Yoga missbilligt werden, wo doch Ahimsa eines der heiligsten Prinzipien ist: das Gelübde der Gewaltlosigkeit, die Verpflichtung, keine empfindungsfähigen Wesen zu verletzen. Aber ich habe dieses Gelübde nie abgelegt; so ticke ich eben nicht. Ich bin so gar nicht die Person, die die andere Wange hinhält. (Deshalb laden mich diese netten Jainisten nie zu ihren Picknicks ein.) Ich ver brachte also ziemlich viel Zeit damit, diese Hindugöttin zu studieren, die verehrt wird für ihre Fähigkeit, Dämonen zu töten, die Körper von großartigen Kriegern und Tieren zu erbeuten und ihren Feinden das Blut auszusaugen. Ihre Wildheit war genau das, was ich bei meiner Heilarbeit brauchte. Anstatt die in mir bereits vorhandenen Qualitäten von Kali zu ersticken, wollte ich sie als meine heilende Partnerin in meinen Kreis einladen. Es war ein guter, heiliger Platz für diese grausame Person in mir.
Bevor ich mehr über Kali lernte, hatte ich nicht gewusst, wie ich mit meiner Wut und meinem Zerstörungsdrang umgehen sollte, die von meinem Missbrauch herrührten. Ich richtete diesen Killerim puls auf mich selbst mit all meinem selbstzerstörerischen Verhalten. Zu meinem Horror und meiner Schande hatte ich ihn sogar auf die von mir geliebten Pferde gerichtet, indem ich sie schlug, wenn sie nicht gehorchten. Ich dachte, der Sprung von den Klippen würde den Killer in mir töten. Aber ich lag falsch. Meine Aufgabe war nicht, diesen Teil in mir zu töten; es ging darum, diese mächtige Energie zu verstehen, sie zu meiner Verbündeten zu machen und durch Einfühlungsvermögen zu mäßigen. Kali repräsentierte einen der ersten Aspekte des weiblichen Spirits, die ich respektieren konnte.
Ich brauchte eine Weile, um zu realisieren, dass Kali so viel mehr t un konnte, als sich anzupirschen und zu töten. Sie repräsentiert nicht nur die zerstörerische Macht des Todes, sondern auch die ultimative Realität – die sich dir offenbart, wenn du deiner eigenen Sterblichkeit ins Gesicht blickst. Sie ist eine Kriegerin, die anderen helfen kann, die Entscheidung eines Kriegers zu treffen, um sich mit der Wahrheit ihres Sterbens zu konfrontieren und mit der Wahrheit, wie sie die Zeit verbringen möchten, die ihnen noch auf der Erde verbleibt. Kali ist die ultimative Wahrheitssprecherin . Und es gibt keinen wichtigeren Zeitpunkt, die Wahrheit auszusprechen , als wenn du stirbst.
Erst als Bill, ein junger Patient Anfang zwanzig, in mein Leben trat, lernte ich die heiligen Chancen zu schätzen, die sich bieten, wenn man mit dem Tod konfrontiert ist. Bill war einer meiner Schüler, der mit Komplikationen aufgrund einer Aidserkrankung im Endsta dium im Krankenhaus landete. Als ich ihn besuchte, fand ich einen jungen Menschen, der völlig in seinem Krankenhausbett versunken
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