Die Zahl
festhielt.
»Stopp!« Er zeigte auf eine Stelle am Straßenrand. »Wenn ich mich recht erinnere, müssen wir ab hier zu Fuß gehen. Es gibt einen kleinen Weg, der durch den Wald führt.«
Sie stiegen aus und sahen sofort, dass der Schnee auf dem Weg plattgedrückt war. Von Fußspuren war jedoch nichts zu sehen, der Mörder musste auf seinem Weg zurück von der Burg etwas hinter sich hergezogen haben, um seine Spuren zu verwischen. Schweigend stapften sie durch den Schnee, bis irgendwann die Überreste
der alten Burg vor ihnen aufragten. Die starken mittelalterlichen Mauern hoben sich dunkelgrau vom Schnee ab.
»Komm«, rief Capelli und begann schneller zu gehen, »vielleicht lebt sie ja noch.«
Als sie die Burg endlich erreichten, mussten sie entlang der Befestigungsmauer noch einige Meter der Spur folgen, bis sie an den Durchgang gelangten.
»Nicht so schnell!«, schrie Lorentz Capelli hinterher, die flink wie ein Wiesel ins Innere der Burganlage rannte.
Doch die Gerichtsmedizinerin ignorierte ihn und hetzte weiter, während Lorentz, mit dessen Kondition es nicht weit her war, erst noch durchschnaufte.
»Hier ist der Brunnen«, rief sie, als Lorentz nur wenige Sekunden später in ihrem Blickfeld auftauchte. »Du musst mir helfen.« Sie versuchte, die Holzplatte, die die Zisterne bedeckte, wegzuschieben.
Mit vereinten Kräften zerrten sie an der Holzabdeckung, die sich knirschend verschob.
»Hallo«, schrie Capelli in die Finsternis, die sich unter der Spalte erstreckte. »Ist da unten jemand?«
»Warte!« Lorentz schob die Abdeckung noch ein wenig weiter zur Seite.
Capelli zog eine Taschenlampe aus ihrer Jacke. Sie leuchtete in den Schacht.
»Scheiße!« Lorentz war der Erste, der wieder Worte fand. »So eine verdammte Scheiße, verflucht nochmal.« Er setzte sich einfach auf den eiskalten Boden, sprang aber nur wenige Sekunden später wieder auf, weil aus dem Wald Geräusche kamen.
»Hast du das auch gehört?«
»Ja«, sagte Capelli und wischte sich eine Träne von der Wange. »Keine Panik, ich glaube, das ist Otto. HIER !«, schrie sie und winkte. »Wir sind hier!«
Eine Minute später tauchte Morells fülliger Körper zwischen
den Bäumen auf. Er trug eine dicke, orangefarbene Daunenjacke, in der er wie ein überdimensionales Michelin-Männchen aussah. Sein Kopf war rot angelaufen, und er war völlig außer Atem. Hinter ihm erschienen Altmann und Bender.
»Wir sind zu spät gekommen«, schluchzte Capelli und reichte dem Chefinspektor die Taschenlampe.
Jemand hatte einen Schlauch an die Leitung geschraubt, die das Museum und das Gasthaus der Burg mit Wasser versorgte, und die Zisterne geflutet. Als er hineinleuchtete, sah Morell das helle Haar von Maria Zieher, das an der Wasseroberfläche leise hin- und herwogte. Was auch ihm nicht auffiel, war das kleine Spielzeug-Segelboot, das einsam und verlassen am Rand des Brunnens schaukelte und auf dessen Segel mit rotem wasserfestem Stift eine große XII gemalt war.
»Zwölf Tage laßt den Henker mit ihm spielen,
er schrieb mit fremden Federkielen!«
Arno Holz, Die Blechschmiede
Konnte es noch schlimmer kommen? Und das, obwohl Haug ihm nun endlich vier Männer von der Spurensicherung geschickt hatte. Leider war der Hubschrauber erst in der Dämmerung gelandet, sodass sich die Besichtigung des Fundorts im Dunklen als problematisch herausstellte und nach kurzer Zeit abgebrochen werden musste. Erst morgen früh würden die Männer wieder an die Arbeit gehen – und wie die Chancen standen, würde bis dahin der nächtliche Neuschnee die kümmerlichen Spuren unter sich begraben haben.
Ein Problem türmte sich auf das nächste. Sein größtes Problem aber, das war er selbst. Er war völlig fertig, in jeder Hinsicht. Was für ein verdammter Tag! Morell träumte davon, endlich nach Hause fahren zu können. Bender hatte er bereits nach Hause geschickt, so geknickt wie der war. Er gähnte. Diese Müdigkeit. Und dieser Hunger. Dazu kam die Tatsache, dass er furchtbar stank. Er trug immer noch dieselben Klamotten, mit denen er sich gestern Abend zur Observierung aufgemacht hatte. Er hatte mit diesen Sachen im Auto geschlafen und war anschließend den ganzen Tag darin herumgerannt. Morell schnüffelte unter seiner Achsel,
rümpfte die Nase und schüttelte sich. Er brauchte dringend eine Dusche. Zu seiner Müdigkeit gesellten sich immer wieder Frust und Verzweiflung darüber, dass Maria Zieher tot war und er es nicht hatte verhindern können. Lars Zieher war nach
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