Die Zahl
der Schreckensmeldung zusammengebrochen und hatte geweint wie ein kleines Kind. Wie so oft in den letzten Tagen hatte Morell sich am liebsten dazusetzen und mitweinen wollen. Wahrscheinlich würde es bald wieder eine Entführung geben, und er hatte keine Ahnung, was er tun konnte, um den Killer zu stoppen. Er legte den Kopf auf den Tisch, müde, hungrig, verzweifelt, frustriert. Weihnachten war verdorben, Landau war verdorben, sein Leben war verdorben, alles war verdorben.
Als Morell die Reviertür zusperrte, schneite es schon wieder. Würde das denn nie ein Ende nehmen? Es wäre ein Wunder, würden sich morgen noch irgendwelche Spuren am Fundort finden. Er schaute in den schwarzen Himmel und beobachtete die dicken, schweren, weißen Flocken, die auf ihn herabfielen.
»Leise rieselt der Schnee«, sang er. »Still und starr ruht der See.«
Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und betrachtete die Atemwolken vor seinem Mund.
»Weihnachtlich glänzet der Wald, freue dich, ’s Christkind kommt bald!«
»Drauf auch droheten Häupter unnennbar gräßlicher Schlangen,
Zwölf umher, zu erschrecken die sterblichen Erdbewohner,
Alle, so viel feindselig zum Kampf Zeus’ Sohne sich nahten.«
Hesiod, Der Schild des Herakles
Am nächsten Tag war die Atmosphäre im Ort so trüb wie das Wetter, das einfach nicht besser werden wollte. Schneeregen prasselte seit den frühen Morgenstunden auf das kleine Dorf nieder und drückte die Stimmung noch mehr. Kein einziger Sonnenstrahl wollte diesen unheilvollen Ort besuchen, um ihn ein wenig wärmer, heller und lebenswerter zu machen.
Morell stellte sich vor, wie überall die Sonne schien und einzig über Landau eine schwere, dunkle Gewitterwolke hing – so wie in einem alten Comic, den er einmal gelesen hatte, nur dass die Regenwolke dort über dem Haus einer bösen, alten Hexe schwebte.
Hier gab es zwar keine Hexe, dafür aber einen Mörder – vielleicht sollte er einmal nachsehen, über welchem Haus die Wolken am schwärzesten waren. Möglicherweise brachte das ja mehr, als noch einmal die Angehörigen von Maria Zieher und potenzielle Zeugen aus dem Hotel ›Alpenrose‹ zu befragen.
...
Zum dritten Mal stand Capelli nun mit Dr.Levi in der Totenkapelle. Die ersten beiden Leichen waren bereits mit dem Hubschrauber
nach Innsbruck gebracht worden, es war also nicht mehr ganz so eng wie beim letzten Mal.
Capelli, die mit Dr.Levi seit dem Dinner per du war, bemerkte den gequälten Blick des Arztes. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie besorgt.
»Ja, ja«, nickte der. »Leichen sezieren wird für mich bald zur Routine. Du brauchst nicht zufällig einen Assistenten?«
Capelli musste schmunzeln. »Na, das ist erst deine dritte Leiche. Von Routine würde ich da noch nicht sprechen. Aber wenn bei uns in der Gerichtsmedizin das nächste Mal eine Stelle frei wird, werde ich an dich denken.« Sie griff zum Skalpell.
»Äh, ich wollte dich übrigens noch was fragen«, sagte Dr.Levi verlegen und starrte auf den Boden.
»Immer nur heraus mit der Sprache.« Capelli setzte das Skalpell zum Y-Schnitt an.
»Hättest du Lust, heute Abend wieder mit mir essen zu gehen? Ein kleines Weihnachtsessen sozusagen.« Er starrte weiter auf den Boden, als die scharfe Klinge des Skalpells die weiße, aufgedunsene Haut von Maria Zieher durchschnitt und eine klaffende Wunde hinterließ.
»Gern«, sagte Capelli und griff zur Knochenschere. »Unser letztes Essen war ja sehr nett.«
»Nett? Wenn ihr Frauen das Wort ›nett‹ in den Mund nehmt, dann hat das meistens nichts Gutes zu bedeuten. Nett kann ja so gut wie alles sein.«
»Mei, dann halt nicht nett, sondern ...«, Capelli überlegte, »... amüsant. Ich fand unser letztes Essen sehr amüsant.«
»Nun ja, das war zwar auch nicht unbedingt das Wort, das ich mir erhofft hatte, aber ich habe ja noch eine Chance, um einen besseren Eindruck als ›nett‹ oder ›amüsant‹ zu hinterlassen.«
»Genau«, sagte Capelli und nahm die Leber heraus.
...
Morell stand in seinem Büro und goss noch rasch die Pflanzen, während Capelli und Lorentz vor seinem Schreibtisch Platz nahmen. »Schieß bitte los, Nina«, sagte er. »Was gibt’s Neues?«
»Die Obduktion hat ergeben, dass Maria Zieher ertrunken ist«, begann Capelli. »Sie muss versucht haben, sich zu befreien – an ihren Händen und an den Beinen fanden sich viele Kratzspuren und Schürfungen.«
Alle drei schwiegen kurz und versuchten, das schreckliche Bild, das sich vor ihrem
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