Die Zahl
Stand der Dinge zu fragen. »Aber ich liege mit meinen Annahmen meistens nicht weit daneben.« Sie zog den rechten Gummihandschuh aus und streckte Morell ihre Hand entgegen. »Das war’s dann wohl. Ich hoffe, ich konnte Ihnen ein wenig weiterhelfen.«
»Und wie!«, sagte Morell. »Dank Ihnen kenne ich jetzt schon den ungefähren Todeszeitpunkt, die Todesursache und wahrscheinlich auch die Tatwaffe.« Er lächelte Capelli an. »Vielen, vielen Dank! Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«
»Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihren Ermittlungen«, sagte Capelli.
»Das werde ich brauchen können«, seufzte Morell.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden, und besten Dank nochmals für alles.«
Morell schüttelte noch immer Capellis zierliche Hand. »Ich habe zu danken«, sagte er.
Dann drehte er den Thermostat wieder runter, schloss die Tür ab und begleitete die Gerichtsmedizinerin zu ihrem Auto.
»Grüßen Sie mir Ihren Kater«, rief Capelli, als sie in ihren kleinen, grünen Ford einstieg.
»Werde ich machen«, sagte Morell und sah ihr nach, wie sie um die Ecke bog. Anschließend fuhr er zurück ins Polizeirevier.
Agnes Schubert hatte natürlich dafür gesorgt, dass sich die Nachricht von dem Mord in Windeseile im ganzen Ort herumgesprochen hatte. Nun meldeten sich potenzielle Zeugen am laufenden Band. Morell war zwar sicher, dass sich die meisten von ihnen nur wichtig machen wollten, aber er durfte keinen Hinweis, ganz egal wie klein oder unwichtig er schien, außer Acht lassen.
Er war gerade dabei, einige der Aussagen zu lesen, die Bender aufgenommen hatte, als es an seiner Tür klopfte. »Herein!«
Die Tür öffnete sich. »Da bin ich wieder!« Es war Nina Capelli, die ziemlich wütend aussah.
»Was tun Sie denn noch hier? Ich dachte, Sie seien auf dem Weg in wärmere Gefilde«, sagte Morell.
»Das dachte ich auch, bis ein netter Mann in einer orangefarbenen Weste mir erklärt hat, dass ich nicht mehr weiterfahren kann, weil der Pass zugeschneit und die Straße wegen akuter Lawinengefahr nicht mehr passierbar ist. Ich sitze also hier fest.«
Morell überkam eine Welle schlechten Gewissens. »Das tut mir jetzt aber leid! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
Capelli schob ihre Brille, die ein wenig nach unten gerutscht war, wieder hoch. »Mir tut es erst leid, das können Sie mir glauben.«
»Kann ich ein wenig Wiedergutmachung leisten, indem ich Ihnen Kost und Logis anbiete, solange wir hier eingeschneit sind?«, fragte Morell und versuchte zu lächeln.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Angebot angenommen. Sieht so aus, als würde aus meiner Italienreise ein Aufenthalt in Ihrem Kuhdorf werden.« Sie wirkte alles andere als angetan davon.
»Können Sie sich noch erinnern? Sie haben gestern gedroht, bei mir einzuziehen und nicht mehr wegzugehen. Scheint so, als hätte der Nachtisch Ihnen geschmeckt.«
Capelli atmete tief durch und ließ sich in einen Sessel fallen. Ihren Urlaub in Italien konnte sie jetzt wohl vergessen. Sie hatte doch nur nett sein und Ralph Haug einen Gefallen tun wollen – und das hatte sie jetzt davon.
Verdammter Haug! Verdammter Anders! Verdammter Morell! Verdammtes Landau!
»... des Ruhm der Welt zwölf Bücher offenbaren.«
Dante Alighieri, Die göttliche Komödie
Es stank! Wahrscheinlich hatte die verflixte Katze seines Mitbewohners wieder einmal irgendwo hingemacht! Er konnte nicht aufstehen, um nachzusehen wohin – dafür tat sein Kopf viel zu weh. Außerdem war ihm furchtbar schlecht. Die Geburtstagsfeier seines Mitbewohners Peter war gestern Abend ziemlich ausgeartet und hatte einen ordentlichen Kater hinterlassen. Warum wusste er nur nie, wann er genug hatte?
Er betete inständig, dass dieses elende Mistvieh seine neuen Schuhe verschont hatte. Dann schlief er wieder ein.
Kurz darauf schreckte er abermals hoch, weil irgendwo neben dem Bett, unter einem Haufen dreckiger Wäsche, sein Handy klingelte. Es dauerte einige Zeit, bis er es fand.
»Ja«, nuschelte er, »Leander Lorentz hier.«
»Hallo, mein Schatz!«
Es war seine Mutter. Seine Eltern lebten 600 Kilometer entfernt in einem kleinen Kaff namens Landau. Seit er nach Wien gezogen war, sah er sie zwar nur noch selten, sie telefonierten aber des Öfteren. Heute war ihm der Anruf seiner Mutter mehr als lästig. Nicht, dass Lorentz seine Mutter nicht mochte – ganz im Gegenteil.
Er hielt nur ihre ewige Nörgelei seinen Lebensstil betreffend nicht aus. Er wusste selbst, dass er bereits 33
Weitere Kostenlose Bücher