Die Zahl
ja, dass ich mit Josefs Mutter befreundet bin«, fuhr sie fort. »Die Ärmste ist natürlich völlig am Ende. Die Polizei hat den Leichnam noch nicht zur Beerdigung freigegeben, gleichwohl möchte sie am Donnerstag eine Trauerfeier veranstalten. Ich hätte gerne, dass du kommst. Josef hatte ja nicht sehr viele Freunde, und du würdest mir wirklich eine Freude machen.«
Lorentz hatte definitiv keine Lust dazu. Er hasste Landau, dieses elende Kaff und seine doofen Einwohner – Verwandte natürlich ausgenommen. Diese langweiligen Landeier, diese bornierten, beschränkten Bauerntrampel in ihrem verschlafenen Provinznest. Er wusste genau, warum er sofort nach der Schule seine Sachen gepackt und weit weg nach Wien gezogen war. »Small towns – small minds«, hatte ein Austauschstudent aus London einmal gesagt, und Lorentz fand, dass diese Aussage den Nagel genau auf den Kopf traf.
Leider hatte er noch ziemlich viel Restalkohol im Blut und zu wenig geschlafen – weshalb ihm spontan keine gute Ausrede einfiel. Also versuchte er, Zeit zu gewinnen. »Was ist denn passiert?«, fragte er.
»Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht.« Seine Mutter seufzte. »Die genauen Umstände von Joes Tod sind noch nicht geklärt. Alles, was ich weiß, ist, dass es kein natürlicher Tod war. Offenbar wurde er umgebracht. Seine Leiche ist gestern gefunden worden. Mehr will die Polizei noch nicht sagen.«
»Na so was.« Mehr fiel Lorentz beim besten Willen nicht dazu ein.
»Sei bitte ein Schatz und komm! Der Trauergottesdienst findet am Donnerstag um 11 : 00 Uhr statt. Du kannst dir doch sicher einen oder zwei Tage freinehmen.«
Lorentz’ Hirn arbeitete so schnell es in seinem Zustand möglich war. Es dauerte daher einige Sekunden, bis ihm der rettende Einfall kam. »Sag mal, seid ihr nicht eingeschneit?«
»Ja, wie so oft um diese Jahreszeit.«
Lorentz atmete auf. ›Gott sei Dank – im wahrsten Sinne des Wortes‹, dachte er. Alles Gute kam manchmal tatsächlich von oben! »Dann werde ich wohl leider nicht kommen können.«
»Ich wusste, dass du versuchen würdest, dich zu drücken«, sagte seine Mutter. »Darum hat dein Vater mit Herrn Felber, seinem Bekannten vom Hubschrauber Shuttle Service, telefoniert. Am Mittwochmorgen werden hier ein paar Geschäftsleute, die zu einem wichtigen Termin müssen, von einem Helikopter abgeholt und ausgeflogen. Herr Felber würde dich auf dem Hinflug mitnehmen. Du kannst dein Auto auf dem Firmenparkplatz abstellen.«
»Und wie soll ich wieder zurückkommen? Ich nehme nicht an, dass sie extra wegen mir noch einen Flug machen werden.«
»In ein paar Tagen sind die Straßen ganz sicher wieder frei. Ich fahre dich dann nach Innsbruck hinunter zu deinem Auto. Komm, gib dir einen Ruck. Dein Vater und deine Großmutter würden sich auch sehr freuen, wenn sie dich mal wieder zu Gesicht bekommen würden.«
Leander Lorentz war noch nie sehr gut im Neinsagen gewesen – vor allem nicht, wenn er noch im Halbschlaf lag. Außerdem, wenn er ganz genau darüber nachdachte, kam ihm diese Trauerfeier gar nicht einmal so ungelegen. Er hatte unbezahlten Urlaub und musste darum ein wenig sparen, nach Peters gestriger Geburtstagsparty sah es in der Wohnung aus wie nach einem Bombenangriff, und die Katze hatte sehr wahrscheinlich irgendwo hingepieselt.
Ein paar Tage im Hotel Mama wären da gar keine so üble Sache. Gutes Essen, ein stets voller Kühlschrank, jemand, der seine Wäsche machte, eine riesengroße Badewanne, kein Dreck ... Dafür konnte er doch ein wenig Heuchelei in Kauf nehmen!
»Gut, ich werde kommen. Zufrieden?«
»Danke, mein Schatz, ich habe doch gewusst, dass ich auf dich zählen kann.«
Ein pochender Schmerz hinter seinen Augäpfeln zwang ihn, aufzustehen und ins Badezimmer zu gehen. Dort holte er eine Schachtel Aspirin aus dem kleinen Spiegelschränkchen, nahm sich zwei Stück und spülte sie mit ein wenig Wasser hinunter. Als er die Tür des Kästchens wieder schloss, sah er sich selbst ins Gesicht. Lorentz wusste, dass er ein gut aussehender Mann war: Er hatte ein markantes Gesicht mit braunen, von bernsteinfarbenen Flecken durchzogenen Augen und vollem dunkelbraunen Haar, das ihm bis knapp über die Ohren reichte. Er war groß, sein Körper war gut trainiert, sodass sich alle Muskeln schön abzeichneten. Jetzt jedoch waren seine Augen rot unterlaufen, die Haut fahl und blass, und der Dreitagebart, der ihm normalerweise einen leicht verwegenen Touch verlieh, sah einfach nur räudig aus.
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