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Die Zahl

Die Zahl

Titel: Die Zahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Larcher
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Was ihm heute entgegenblickte, war ein unansehnlicher, verkaterter Exwissenschaftler, der dringend eine Dusche und ein wenig Schlaf brauchte.
    Der alte Joe war also tot. Lorentz hatte keine Ahnung, was er davon halten sollte. Irgendwie fühlte er gar nichts.
    Er überlegte. Hatten seine Mutter und einige seiner Exfreundinnen vielleicht doch recht? War er wirklich unsensibel? War er ein gefühlskalter Eisberg? Ein mieser, arroganter Kerl? Er dachte an früher. An die vielen Gespräche, die er und Joe geführt hatten. Er dachte an die vielen Stunden, in denen sie Pläne geschmiedet und Streiche ausgeheckt hatten. Es war eine gute, glückliche Zeit gewesen.
    Er fühlte immer noch nichts.

»Aus dem Norden, in Niflheim,
dem Land der Nebel, der Kälte und Finsternis,
entsprang ein tosender Quell,
aus dem zwölf Ströme hervorbrachen.«
    Vom Anfang der Welt, Nordische Sage
    Morell entschied, dass er sich unmöglich auf den Fall konzentrieren konnte, solange Capelli neben ihm saß und angestrengt versuchte, mit ihren Blicken seine Topfpflanzen zu ermorden. Sie hatte zunächst noch ihre Kollegen in Innsbruck angerufen und den Leichentransporter aufgrund der unpassierbaren Straße bis auf Weiteres wieder abbestellt – und anschließend nur noch dagesessen und geschmollt.
    Es gab keinen anderen Ausweg: Sie musste aus seinem Büro verschwinden! Also beschloss er, die Gerichtsmedizinerin, die gerade probierte, durch Telepathie eine Yukkapalme zum Absterben zu bringen, zu sich nach Hause abzuschieben.
    »Kommen Sie«, sagte er und schnappte sich seine Jacke. »Bei mir daheim ist es gemütlicher. Dort können Sie lesen oder ein wenig fernsehen und etwas essen.«
    Capelli hörte endlich auf, das kleine Gewächs anzustarren, und wandte ihren Todesblick stattdessen dem Chefinspektor zu, der sich daraufhin ins Vorzimmer flüchtete.
    »Ich werde Frau Dr.Capelli zu mir fahren«, sagte er zu Bender und streifte seine Handschuhe über. »Ich bringe sie nur kurz hinüber
und komme dann gleich wieder. Du musst solange hier die Stellung halten.«
    Der junge Polizist bedachte seinen Vorgesetzten mit einem fassungslosen Blick. »Aber, Chef, das halbe Dorf bombardiert mich mit Anrufen, und die«, er deutete mit dem Kopf auf ein paar alte Damen, die auf einer Bank vor dem Empfangsschalter saßen, »kosten mich den letzten Nerv.« Bender verdrehte die Augen. »Die sind total hysterisch wegen dem Mord und fragen mir schon seit Stunden ein Loch in den Bauch.« Er sah den Chefinspektor flehend an. »Sie dürfen mich nicht mit denen allein lassen. Ich kann doch nicht ...«
    »Ich weiß«, flüsterte Morell und schaute sich um, um sicherzugehen, dass die Gerichtsmedizinerin außer Hörweite war. »Aber ich kann unmöglich arbeiten, solange die Capelli wie ein Klageweib neben mir sitzt und vor sich hin schmollt. Ich muss die Frau irgendwie loswerden.« Er zuckte entschuldigend mit den Achseln.
    »Aber die werden mich ...«, versuchte der junge Inspektor seinen Chef aufzuhalten, doch der hatte schon die Tür hinter sich geschlossen.
     
    »Wenn Sie wollen«, sagte Morell, als Capelli endlich auf den Parkplatz trat, »können Sie Ihren Wagen in der Garage des Reviers abstellen. Meine eigene ist leider nicht groß genug für zwei Autos.«
    Capelli parkte also missmutig ihren grünen Ford in der polizeieigenen Garage, holte ihre Reisetasche aus dem Kofferraum und öffnete die Beifahrertür von Morells kleinem, weiß-roten Streifenwagen. Dieser war einer der letzten seiner Art, worauf Morell besonders stolz war. Seit der Zusammenlegung der Bundespolizei und der Bundesgendarmerie im Juli 2005 gab es neue Dienstwagen, die nach und nach die alten ersetzten. Die Grundfarbe der neuen Autos war nicht mehr Weiß, sondern Silber, und die Aufdrucke waren in Rot und Blau gehalten. Morell konnte sich nicht vorstellen, seinen kleinen Golf gegen eine fahrende Red Bull-Dose
zu tauschen, und hoffte inbrünstig, dass die Verwaltung in Wien ihn und sein Auto einfach vergessen würde.
    »Ich kann nur noch einmal betonen, wie leid mir das mit Ihrem Urlaub tut«, sagte Morell, an dem immer noch das schlechte Gewissen nagte. Er vermied es dabei tunlichst, die Gerichtsmedizinerin anzusehen.
    »Ja, mir auch!«, antwortete Capelli, stieg ein und knallte die Tür zu.
    Der Chefinspektor ließ den Wagen an und fuhr schweigend los.
    Nina Capelli starrte aus dem Fenster. Weit und breit waren nur Bäume, Berge und kleine Einfamilienhäuser zu sehen, deren Fenster und Türen mit

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