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Die Zahl

Die Zahl

Titel: Die Zahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Larcher
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 Jahre alt war und immer noch kein geregeltes Leben führte. Er hauste mit Peter, der Psychologie studierte und schon seit einer halben Ewigkeit an seiner Abschlussarbeit bastelte, in ihrer alten Studentenbude und fuhr in einer Rostlaube auf vier Rädern herum. »Wann suchst du dir endlich eine ordentliche Wohnung?«, fragte seine Mutter jedes Mal, wenn er mit ihr sprach. »Wann hörst du endlich auf, deine Freundinnen im selben Rhythmus zu wechseln wie deine Unterhosen«, war auch einer ihrer Klassiker. Leander Lorentz war ein erwachsener Mann, aber trotzdem schaffte seine Mutter es immer noch, ihm ein schlechtes Gewissen einzureden. Darum verschwieg er ihr unangenehme Dinge einfach. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass er sich vor zwei Wochen von seiner Stelle an der Universität, wo er als Dozent für Archäologie arbeitete, auf unbestimmte Zeit hatte beurlauben lassen. Er hatte für seine Arbeit weder die Bezahlung noch die Anerkennung erhalten, die ihm seiner Meinung nach zustanden. Außerdem war der Antrag auf Forschungsgelder abgelehnt worden, den er vor einiger Zeit für eine Ausgrabung gestellt hatte. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Seine Kollegen, seine Vorgesetzten und vor allem seine Studenten waren – bis auf wenige Ausnahmen – Banausen und Intelligenzallergiker. Er brauchte dringend eine Pause vom Universitätsbetrieb. Um ehrlich zu sein, hatte er sich schon seit einiger Zeit ernsthaft gefragt, was ihn damals geritten hatte, als er sich für das Archäologiestudium entschied. Er fragte sich auch, warum um alles in der Welt er nach dem Studium den Dozentenjob an der Universität angenommen hatte. Während all den Jahren hatte er keine Abenteuer erlebt und keine Schätze gefunden. Er hatte keinen einzigen Archäologen kennengelernt, der in der Art von Indiana Jones mondän durch die Welt jettete und atemberaubende Entdeckungen machte. Ganz im Gegenteil – er hatte Jahre damit verbracht, bei jeder Witterung im Dreck zu hocken und Bodenverfärbungen zu
analysieren, Schweineknochen oder Steine auszugraben, jede Menge billigen Alkohol zu trinken und dafür einen Hungerlohn zu kassieren. Am liebsten hätte er den Job völlig an den Nagel gehängt, aber dazu war er zu feige. Was, wenn er nichts Neues fand? Was, wenn er seinen Entschluss bereute? Er hatte keinen blassen Schimmer, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Darum hielt er es für das Beste, sich ein Hintertürchen offen zu halten.
    »Hallo Mutter!« Er versuchte nüchtern und ausgeschlafen zu klingen. Aber natürlich würde sie – wie immer – sofort merken, dass er noch im Bett lag. Mütter hatten anscheinend einen siebten Sinn für die Alkoholexzesse ihrer Söhne. Vor allem seine.
    »Hallo Leander, wie geht’s dir?«, fragte sie.
    »Danke Mama, alles bestens. Und dir?«
    »Mir geht es gut. Ich wollte nur kurz fragen, ob du noch genug Geschirr hast? Ich habe ein neues Service gekauft. Du könntest unser altes haben.«
    »Danke Mama, aber momentan bin ich bestens ausgestattet.« Irgendetwas war hier faul. Sie klang so komisch. Sie wusste doch nicht etwa von seiner Beurlaubung?!
    »Warum ich eigentlich anrufe ...«
    ›Herrje‹, befürchtete Lorentz, ›sie weiß es.‹ Er hielt die Luft an und machte sich auf ihre Vorwürfe gefasst.
    »Du kannst dich doch sicher noch an Josef Anders erinnern«, sagte sie stattdessen.
    Klar konnte er sich erinnern. Joe und er waren vor langer Zeit einmal die besten Freunde gewesen. Er legte großen Wert auf die Betonung des Wortes »waren«.
    »Ja, ich erinnere mich – was ist mit ihm?«, fragte er.
    »Er ist tot«, antwortete seine Mutter.
    »Aha«, Lorentz fühlte sich nicht wirklich betroffen. Um ganz ehrlich zu sein, löste diese Nachricht bei ihm ungefähr dieselbe Reaktion aus, als hätte ihm seine Mutter gerade erzählt, dass sie eine neue Salbe gegen ihre Krampfadern entdeckt hatte – es war ihm
schlichtweg egal. »Da hat sich Joe wohl an seinem Spießerleben zu Tode gelangweilt. Oder hat Iris ihn mit einer Pfanne erschlagen, weil er ihr zu Weihnachten keinen Pelzmantel kaufen wollte?«
    »Mein Gott, Leander, das ist nicht lustig. Über so etwas macht man keine Scherze!«, regte sich seine Mutter auf. »Ihr wart doch mal befreundet. Was ist nur manchmal los mit dir? Du kannst so unsensibel und roh sein – ich weiß nicht, von wem du das hast!«
    »Mhm«, Lorentz war zu müde, um zu streiten. Er wusste genau, wann es besser war, seinen Mund zu halten.
    »Du weißt

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