Die Zahl
die unser Krippenspiel verschandelt haben!«
Morell holte tief Luft. »Einen schönen Tag noch«, sagte er, legte auf und wählte die Nummer von Leander Lorentz.
...
Bevor er die Akten bei Morell abholen würde, wollte Lorentz nur noch kurz in die örtliche Bibliothek gehen, um sich dort einmal die Bücher anzusehen. Er bezweifelte zwar, dass es in der kleinen Sammlung mehr als ein paar billige Kitsch- und Kriminalromane gab, aber es war einen Versuch wert. Immerhin hatte der Mörder auch Zugriff auf die Literatur vor Ort und hatte sich vielleicht hier zu dem Geheimnis um die Zahl Zwölf inspirieren lassen.
Lorentz zog seine Winterjacke an, wickelte sich einen Schal um den Hals und verließ das Haus.
Auf dem Weg dorthin grübelte er. Es war schon seltsam, so viele Tage wieder hier zu sein. Er empfand so viel Abscheu für diesen Ort, der einmal seine Heimat gewesen war. Diese Enge, diese Beschränktheit. Und nun auch noch die Morde! Von hier wegzuziehen war die beste Entscheidung gewesen, die er jemals getroffen hatte. Aber immerhin hatte er wieder Kontakt zu Iris bekommen. Und auf die kommenden Stunden, in denen er gemeinsam mit der niedlichen Nina Capelli die Akten durchforsten würde, freute er sich insgeheim sogar ein bisschen. Dennoch: Er vermisste Wien. Die Stadt war nun einmal sein neues Zuhause. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach war der Pass morgen wieder frei, und dann könnte er in Ruhe nach Wien zurückfahren und seine Vergangenheit wieder hinter sich lassen.
»Leander«, holte ihn eine vertraute Stimme aus seinen Gedanken. Es war Iris, die ihm von der anderen Straßenseite aus zuwinkte.
Lorentz ging ihr entgegen. »Wie nett dich zu sehen.«
Sie lächelte verlegen. »Ich war gerade einkaufen«, sagte sie und zeigte auf eine Tasche voll mit Lebensmitteln. »Ich hatte überhaupt nichts mehr zu essen daheim.«
Lorentz stellte fest, dass sie blass aussah. Sie wirkte verletzlich und zerbrechlich, und da er seine Beschützerinstinkte nicht unterdrücken konnte, strich er ihr eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. »Soll ich dir tragen helfen?«, fragte er.
»Sehr gerne«, antwortete Iris. »Ich will dich aber auf keinen Fall von irgendetwas Wichtigem abhalten«, fügte sie hinzu.
»Keine Sorge! Für einen kleinen Umweg habe ich allemal Zeit.« Lorentz streckte seine Hand nach der Einkaufstasche aus. »Wow, die ist aber schwer, scheint so, als hättest du großen Hunger.«
Iris nickte. »Ich hatte in den letzten Tagen keinen großen Appetit, aber irgendwann muss ich ja wieder anfangen ordentlich zu essen. Und da heute so ein schöner Tag ist, dachte ich, es wäre ein guter Moment, damit zu beginnen.«
»Das ist ein guter Vorsatz, finde ich«, sagte Lorentz.
Sie gingen den Rest des Weges schweigend nebeneinander her. Lorentz dachte an ihre gemeinsame Zeit zurück und das unschöne Ende ihrer Liebe. Seitdem hatte er keine wirklich ernste Beziehung mehr gehabt. Das Maximum waren die zwei Jahre mit Lena gewesen. Als diese aber irgendwann begann, ihn zu drängen, mit ihr zusammenzuziehen, hatte er die Flucht ergriffen. Er brauchte seinen Freiraum, wollte keine zu enge Bindung. Nach und nach hatten viele seiner Freunde geheiratet und Kinder bekommen. Lorentz hatte sie meistens ausgelacht und war froh gewesen, dass nicht er es war, der vor dem Traualtar stand oder den Kinderwagen schob.
Vielleicht hatte er falschgelegen? Vielleicht waren ein wenig Sicherheit und Nähe doch gar nicht so übel. Er schielte zu Iris hinüber und lächelte.
»Möchtest du noch auf einen Sprung mit reinkommen?«, fragte sie, als sie vor ihrer Haustür angekommen waren.
»Würde ich wirklich gerne. Aber ich muss noch in die Bibliothek.«
Sie lächelte, und Lorentz fand, dass ihr das sehr gut stand.
»Du bist immer noch derselbe Bücherwurm wie früher«, sagte Iris.
»Manche Dinge ändern sich eben nie«, antwortete er.
...
»Ah, Leander, ich habe dich schon erwartet«, sagte Capelli, als sie Morells Haustür öffnete. Sie nahm ihm zwei der vier schweren Plastiktüten ab, die er mitgeschleppt hatte. »Otto hat gerade angerufen und gesagt, dass du unterwegs bist.«
Gemeinsam packten sie die Tüten aus, und Lorentz erklärte ihr, was es mit den vier Stapeln auf sich hatte. Dann ging er kurz in die Küche, um sich ein Glas Mineralwasser zu holen. Als er zurück ins Wohnzimmer kam, hatte Capelli bereits die erste aufgeschlagene Akte vor sich liegen.
»Du, als ich hergelaufen bin, ist mir etwas eingefallen, das
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