Die Zahlen Der Toten
acht Uhr ist, fühlt es sich an wie Mitternacht. Ich habe einen Kater und bin so ruhelos, dass ich es kaum in meiner eigenen Haut aushalte. Nachdem Tomasetti und Glock gegangen waren, hatte ich mir noch einen Drink genehmigt. Und ordentlich geheult. Aber weinen und trinken bis zur Besinnungslosigkeit ist nicht mein Stil. Ich bin eher jemand, der aktiv wird. Und doch laufe ich im Haus umher, heule wie ein Schulmädchen und tue genau das, was ich mir verboten hatte: Ich schwelge in Selbstmitleid.
Warum bin ich nicht froh, dass sie einen Verdächtigen haben? Warum jauchze ich nicht vor Freude, dass nun keine Frau mehr sterben muss? Meine Karriere hat zwar ein unschönes Ende gefunden, aber es gibt Schlimmeres. Doch warum zum Teufel fühle ich mich dann, als hätte man mir gerade die Eingeweide herausgerissen?
Erst als ich in meinem Mustang sitze und auf dem Weg zu Hershbergers Farm bin, wird mir der Grund dafür klar: Jonas zu verdächtigen ist absurd.
Ich habe mich immer bewusst darum bemüht, meine Voreingenommenheit nicht in meine Arbeit einfließen zu lassen. Ich weiß, vielleicht besser als alle anderen, dass die Amischen nicht perfekt sind. Sie sind Menschen, sie machen Fehler, sie verletzen Regeln und brechen mit Traditionen. Manchmal brechen sie sogar das Gesetz. Einige setzen sich über fundamentale amische Werte hinweg, fahren Auto und benutzen Strom. Aber nicht Jonas. Ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass er kein Fahrzeug hat. Er fährt nicht einmal einen motorisierten Traktor auf seiner Farm. Es ist absolut unmöglich, dass er der Fahrer des Schneemobils war.
Dazu kommt die Tatsache, dass er nicht auch nur ansatzweise dem Täterprofil entspricht. Ich kenne Jonas fast mein ganzes Leben lang; er ist ein grundguter Mensch. In meiner Kindheit haben
Mamm
und
Datt
Schweinefleisch von den Hershbergers gekauft. Einmal, als
Datt
und Jonas’ Vater sich unterhalten haben, hat Jonas mich mit in die Scheune genommen, wo eine hübsche dreifarbige Katze gerade Junge bekam. Vier waren schon da, und Jonas war so fasziniert von den Kleinen, dass er die Not der Mutter, die hechelnd und mit heraushängender rosa Zunge auf der Seite lag, nicht bemerkte. Aber ich sah, dass sie versuchte, ein weiteres Kätzchen zu gebären. Wir wussten nicht, wie wir ihr helfen konnten, und so rannte Jonas zu seinem Vater und flehte ihn an, die Katze in die Stadt zum englischen Tierarzt zu bringen. Mir war klar, dass sein Vater das nicht tun würde, doch Jonas weinte wie ein Baby. Ich hatte mich für ihn geschämt, war aber auch verstört, weil die Katze so litt und wahrscheinlich sterben würde, zusammen mit den Neugeborenen. Später habe ich dann erfahren, dass sie wirklich gestorben ist, aber Jonas die Kätzchen mit der Flasche aufzog. Alle vier haben überlebt.
Nur eine kleine Begebenheit im Laufe eines ganzen Lebens. Ich weiß auch, dass Menschen sich verändern. Ich weiß, dass das Leben seinen Tribut fordert und bestimmte Ereignisse es vermögen, Unschuld in Zynismus, Süße in Bitterkeit und Güte in Grausamkeit zu verwandeln. Allerdings weiß ich auch, dass die meisten Serienmörder bereits von Geburt an Soziopathen sind. Ihre dunkle Reise beginnt in der Kindheit, mit Tieren. Nur wenige Menschen entwickeln im Erwachsenenalter ein krankhaft gestörtes Sozialverhalten.
Es ist Jahre her, dass ich mit Jonas gesprochen habe, und ich weiß, er hat sich verändert. Die Gerüchte darüber sind bis zu mir vorgedrungen. Nach dem Tod seiner Frau vor fünf Jahren ist er zum Sonderling geworden. Er lebt allein, und es ist bekannt, dass er Gespräche mit Leuten führt, die gar nicht da sind, unter anderem mit seiner toten Frau. Seine Farm ist heruntergekommen, er entsorgt die Jauche nicht sachgemäß und es stinkt katastrophal. Niemand weiß Näheres von ihm, weil er keine sozialen Kontakte pflegt. Doch das hindert die Leute nicht, über ihn zu reden.
Das Beste wäre, mit Jonas selbst zu sprechen, doch ich weiß, dass Detrick mir das nicht erlauben wird. Also begnüge ich mich damit, zu seinem Bruder zu fahren. James Hershbergers Farm ist fast so abgewirtschaftet wie die von Jonas. In der Einfahrt bete ich, dass nicht schon jemand von der Polizei da ist. Auf keinen Fall darf herauskommen, dass ich mich doch nicht in Luft aufgelöst habe, so wie sie es gerne hätten. Hinter dem Haus stehen eine Kutsche und ein seelenruhiger Percheron-Wallach mit angewinkeltem Hinterbein und einer Schneedecke auf dem Rücken. Ich parke hinter der Kutsche und
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