Die Zahlen Der Toten
riecht daran. Dann drückt sie ihn fest an sich und bricht in Tränen aus.
»Ich will sie wiederhaben.
«
Ich blicke mich im Zimmer um, hoffe, irgendetwas zu entdecken, das mir mehr über Amanda Horner verrät. So diskret wie möglich sehe ich in ihrem Nachttisch nach, finde nichts, dann suche ich in der Kommode zwischen T-Shirts, Socken und Unterwäsche nach irgendeinem Hinweis.
Eine zugeschlagene Autotür kündigt Harold Horner an. Ohne etwas zu sagen, läuft Belinda aus dem Zimmer. »Harold!
Harold!
«
Glock und ich sehen uns betreten an. »Mein Gott«, sage ich, und er stimmt mir nickend zu.
Als ich ins Wohnzimmer komme, fliegt die Eingangstür auf.
»Ich bin so schnell wie möglich gekommen.« Harold Horner ist ein hochgewachsener Mann. Er trägt ein rotes Flanellhemd und eine Jeansjacke, ist kahlköpfig und hat die schwieligen Hände eines Arbeiters. Seine Augen haben die gleiche Farbe wie die seiner Tochter. Er blickt uns der Reihe nach an. »Wo ist Amanda?«
Ich zeige ihm meine Dienstmarke und stelle mich vor. »Ich fürchte, wir haben traurige Nachrichten, Sir.«
»O Gott, nein. Was ist passiert? Was ist los?«
»Sie ist tot«, stößt Belinda Horner aus. »Unser Kind ist tot. O Harold, lieber Gott.« Er geht zu ihr, und sie bricht in seinen Armen zusammen.
»Unser süßes kleines Mädchen kommt nie wieder nach Hause.«
· · ·
Ich setze Glock am Polizeirevier ab mit dem Auftrag, rüber ins Brass Rail zu fahren. Eigentlich möchte ich selbst hin, delegieren fällt mir schwer, aber ich muss unbedingt mit Doc Coblentz sprechen. Und den erneuten Anblick der Toten möchte ich keinem meiner Officers zumuten.
Glock hatte zuvor schon die Reifen- und Schuhabdrücke am Tatort genommen, ein mühsames Unterfangen, und Mona hatte alles per Kurier ins einhundert Meilen entfernte BCI -Labor in London, Ohio, geschickt. Die Kurierkosten überschreiten zwar unser Budget, aber ich kann auf keinen meiner Mitarbeiter verzichten. Notfalls muss ich es aus der eigenen Tasche bezahlen.
Im Labor werden alle Abdrücke eingescannt und am Computer mit denen von unseren Leuten und Fahrzeugen abgeglichen, die am Tatort waren. Mit etwas Glück bleibt am Ende mindestens einer übrig, der nicht zu den anderen passt und uns einen ersten Hinweis auf die Identität des Mörders gibt. Aber meine diesbezügliche Hoffnung hält sich in Grenzen.
Um kurz vor zwölf parke ich beim Haupteingang des Pomerene Hospital in Millersburg. Ich gehe an der Information vorbei zum Aufzug, fahre ins Kellergeschoss, wo ich die Schwingtüren mit dem schwarzgelben Symbol für Biogefährdung aufstoße und Doc Coblentz in seinem verglasten Büro am Schreibtisch sitzen sehen, weil die Jalousien hochgezogen sind. Als er mich sieht, steht er auf. In dem weißen Laborkittel und den ausgebeulten lohfarbenen Hosen wirkt er unförmig wie ein Hefekloß.
»Chief Burkholder.« Er reicht mir zur Begrüßung die Hand. »Die Eltern waren vor ein paar Minuten hier und haben sie identifiziert.« Er schüttelt den Kopf. »Eine nette Familie. Es ist schlimm mit anzusehen, was ihnen passiert ist.«
»Haben sie mit dem Geistlichen gesprochen?«
»Pfarrer Zimmerman hat sie mit in die Kapelle genommen.« Er nickt zum Zeichen, dass er anfangen will. »Mit der Autopsie habe ich noch nicht begonnen. Bis jetzt gibt es nur vorläufige Ergebnisse.«
»Ich kann alles gebrauchen.« Die Vorstellung, Amanda Horners Leiche gleich wieder zu sehen, erfüllt mich mit Grauen. Doch ich brauche Fakten und muss meine Gefühle ignorieren. Im Moment sind Informationen mein wichtigstes Werkzeug. Ich will den Kerl kriegen, der das getan hat. Am liebsten würde ich ihm ins Gesicht schießen, damit er niemandem mehr das antun kann, was er den Horners angetan hat.
Diese Gedanken helfen mir, der Aufforderung des Doktors nachzukommen, mir Schutzkleidung aus der Nische hinten im Zimmer zu holen.
»Geben Sie mir Ihre Jacke«, sagt er und hält die Hand hin. Widerstrebend ziehe ich den Parka aus, den er draußen vor der Tür an einen Haken hängt. Ich binde mir schnell eine sterilisierte Schürze um und streife Plastikhüllen über die Stiefel.
Doc Coblentz zeigt auf einen angrenzenden Raum, dessen Tür mit einem noch größeren Symbol für Biogefährdung beklebt ist. »Es ist kein schöner Anblick«, sagt er.
»Das sind Mordopfer nie.«
Nach einer weiteren Schwingtür kommen wir schließlich in den Autopsieraum. Obwohl er ein eigenes, separates Lüftungssystem hat, riecht es hier nach
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