Die Zahlen Der Toten
die Drucken-Taste am PC . »Das ist es auch. Aber die Eltern wollen sie bestimmt sehen, bevor sie aufgeschnitten wird.«
»Ich beneide Sie nicht um Ihren Job.« In Coblentz’ Stimme schwingt Mitleid.
In diesem Moment hasse ich meinen Beruf abgrundtief. »Ich fahre zur Mutter nach Coshocton County. Können Sie den Krankenhausseelsorger anrufen und bitten, ins Leichenschauhaus zu kommen? Er wird bestimmt gebraucht.«
4. Kapitel
Die Horners wohnen in der Wohnwagensiedlung Sherwood Forest am Highway 83 zwischen Keene und Clark. Der graue Himmel gleicht einer Betondecke. Während ich in die Schotterstraße abbiege, studiert Glock auf dem Beifahrersitz die Karte, die ich vor der Abfahrt ausgedruckt habe.
»Da ist die Sebring Lane«, sagt er, den Finger auf dem Ausdruck.
Ich fahre rechts in die Straße, an der auf beiden Seiten ein Dutzend Wohnmobile wie Matchboxautos aufgereiht sind. »Welche Stellplatznummer?«
»Fünfunddreißig, dahinten, am Ende.«
Ich parke den Explorer vor einem etwa vier Meter breiten und 18 Meter langen blauweißen Liberty Mobile Home, Baujahr um 1980 . Die seitliche Wohnzimmererweiterung sieht etwas zusammengeschustert aus, doch insgesamt macht die Parzelle, in deren Auffahrt ein Ford F- 150 Pick-up neueren Datums steht, einen gepflegten Eindruck. Am Küchenfenster hängt eine grüne Gardine und um die Sturmtür eine verbliebene Weihnachtslichterkette. Die Mülltonne am Bordstein quillt über. Ein ganz normales Zuhause kurz vor einer furchtbaren Erschütterung.
Ich würde mir lieber die Hand abhacken, als Belinda Horner in die Augen zu sehen und sie auffordern zu müssen, eine Tote zu identifizieren, die ganz bestimmt ihre Tochter ist. Aber genau das ist meine Aufgabe, ich habe keine Wahl.
Auf dem Weg zum Wohnmobil dringt der eisige Wind durch meinen Parka bis auf die Knochen. Während Glock neben mir die Kälte verflucht, steige ich schlotternd die Stufen hinauf und klopfe. Augenblicklich geht die Sturmtür auf, als würden wir erwartet. Vor mir steht eine Frau mittleren Alters mit blond gefärbtem Haar und dunklen Ringen unter den müden Augen. Sie sieht aus, als hätte sie tagelang nicht geschlafen.
»Mrs Horner?« Ich zeige ihr meine Dienstmarke. »Ich bin Kate Burkholder, Chief of Police von Painters Mill.«
Ihr Blick huscht von mir zu Glock und heftet sich dann auf unsere Dienstmarken. Kurz flackert Hoffnung in ihren Augen auf, doch ihre Angst ist nicht zu übersehen. Im Grunde weiß sie, dass es kein gutes Zeichen ist, wenn Polizisten persönlich vorbeikommen. »Geht es um Amanda? Haben Sie sie gefunden? Ist sie verletzt?«
»Dürfen wir hereinkommen?«, frage ich.
Sie macht einen Schritt zurück und öffnet die Tür ganz. »Wo ist sie? Steckt sie in Schwierigkeiten? Hatte sie einen Unfall?«
Der überheizte Wohnwagen ist vollgestopft mit Dutzenden bunt zusammengewürfelten Möbelstücken. Ich rieche eine Mischung aus Schinken vom Frühstück, Hackbraten von gestern Abend und Haarspray. Im Fernsehen läuft eine Gameshow, in der ein strahlender Kandidat gerade ein Angebot für eine Jukebox abgibt. »Sind Sie allein, Ma’am?«
Sie sieht mich an. »Mein Mann ist auf der Arbeit.« Ihr Blick huscht von mir zu Glock und wieder zurück. »Was ist los? Warum sind Sie hier?«
»Ma’am, ich fürchte, ich habe eine schlechte Nachricht.«
Sie reißt entsetzt die Augen auf, weiß instinktiv, was ich als Nächstes sagen werde. In ihrem Blick erkenne ich dieselbe Vorahnung von etwas Grauenvollem, wie ich sie in meinem Inneren gespürt habe.
»Es ist möglich, dass wir Ihre Tochter gefunden haben, Ma’am. Eine junge Frau, auf die Ihre Beschreibung passt –«
»Gefunden?« Ein kurzes, hysterisches Lachen. »Was meinen Sie mit
gefunden?
Warum ist sie nicht hier?«
»Es tut mir leid, Ma’am, aber die Frau, die wir gefunden haben, ist tot.«
»Nein.« Sie hebt die Hand, als wolle sie mich fernhalten. Ihr wilder Gesichtsausdruck könnte einen Zug zum Halten bringen. »Sie irren sich. Das stimmt nicht. Jemand hat einen Fehler gemacht.«
»Ich muss Sie bitten, uns ins Krankenhaus nach Millersburg zu begleiten und sie zu identifizieren.«
»Nein.« Sie stößt das Wort halb schluchzend, halb stöhnend aus. »Das kann nicht sein. Das ist sie nicht.«
Ich blicke zu Boden, um ihr Zeit zu geben, das Unfassbare zu begreifen, und nutze die paar Sekunden, meine eigenen Gefühle in den Griff zu bekommen. Ich will nicht darüber nachdenken, wie unerhört es im Grunde ist, hier zu stehen
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