Die Zahlen Der Toten
fragt, sage ich, er soll nach Hause kommen, und lege auf.
Belinda Horner steht am Fenster, die Arme um sich geschlungen. Glock ist zur Tür gegangen und schaut auf die öde Landschaft hinaus. Seine Stirn ist schweißnass; mir läuft das Wasser den Rücken hinunter.
»Mrs Horner, wann haben Sie Amanda das letzte Mal gesehen?«, frage ich.
Der Blick, den sie mir jetzt zuwirft, lässt mich frösteln. »Ich will sie sehen«, sagt sie mit ausdrucksloser Stimme. »Wo ist sie? Wo ist mein Kind?«
Bevor ich antworten kann, sinkt sie in die Knie. Ich eile zu ihr hin, doch Glock ist schneller und fängt sie unter den Armen auf, kurz bevor sie auf den Boden schlägt. »Ruhig, Ma’am, ruhig«, beschwichtigt er sie.
Glock und ich führen sie zum Sofa. »Ich weiß, es ist schwer, Mrs Horner«, sage ich. »Bitte beruhigen Sie sich.«
Sie blickt mich aus tränennassen Augen an. »Wo ist sie?«
»Im Krankenhaus in Millersburg. Der Geistliche dort ist für Sie da, falls Sie ihn brauchen.«
»Ich bin nicht religiös.« Sie steht auf und blickt sich um, verharrt aber auf der Stelle, als wüsste sie nicht, wo sie ist und was sie tun soll. »Ich will sie wirklich sehen.«
»Ja, natürlich, aber haben Sie bitte noch einen Moment Geduld.« Ich versuche erneut, die Information zu bekommen, die ich brauche. »Mrs Horner, wann haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen?«
»Vor zwei Tagen. Sie ist … ausgegangen. Sie war beim Friseur gewesen und hatte sich in der Mall einen neuen Pullover gekauft, braun mit Pailletten am Halsausschnitt. Sie sah so schön aus.«
»War sie mit jemandem zusammen?«
»Mit Connie, ihrer Freundin. Sie wollten in die neue Bar gehen.«
»Wie heißt die?«
»Brass Rail.«
Meine Polizisten sind schon ein paar Mal dorthin gerufen worden. Die Bar wird von hormongesteuerten jungen Leuten frequentiert, die zu viel trinken und Gott weiß was sonst noch alles treiben. »Wie heißt Connie mit Nachnamen?«
»Spencer.«
Ich ziehe meinen Notizblock aus der Tasche und schreibe es auf. »Um wieviel Uhr ist Amanda hier weggegangen?«
»So gegen sieben Uhr dreißig. Sie war immer zu spät dran, hat immer erst alles in letzter Minute gemacht.« Sie schließt die Augen und schluchzt. »Ich kann einfach nicht glauben, dass das hier kein böser Traum ist.«
»Hatte Amanda einen Freund?«
»Nein. Sie war so eine gute Tochter. Jung und hübsch und klug dazu. Klüger als ich und ihr Dad zusammen.« Ihre Lippen zittern. »Im Herbst wollte sie zurück aufs College.«
Es gibt keine Worte, um sie zu trösten.
»Dürfen wir uns ein wenig in ihrem Zimmer umsehen?«, frage ich.
Sie starrt mich aus blicklosen Augen an.
»Können Sie uns bitte ihr Zimmer zeigen, Ma’am?«, fragt Glock behutsam.
Sie geht leise wehklagend zum Flur, ich bleibe dicht hinter ihr. Wir passieren ein winziges Bad mit rosa Handtüchern und farblich passendem Duschvorhang. Vor der nächsten Tür bleibt sie stehen, stößt sie auf. »Das ist ihr Zimmer mit ihren Sachen.« Ihr ganzer Körper bebt, so heftig schluchzt sie. »O mein Baby, meine süße Tochter.«
Ich trete an ihr vorbei ins Zimmer und versuche, es mit dem unvoreingenommenen Blick einer Polizistin zu betrachten, kein leichtes Unterfangen bei all dem Leid um mich herum.
Ein Einzelbett, ungemacht. Mit rosa Rüschenbettwäsche und rosa Tagesdecke. Die Bettwäsche eines kleinen Mädchens, denke ich. Die hat sie wahrscheinlich seit ihrer Kindheit.
Auf dem Nachttisch stehen eine Lampe, ein Wecker und mehrere gerahmte Fotos. Ich nehme das Foto mit Amanda und einem jungen Mann darauf in die Hand. »Wer ist das?«
Belinda kämpft gegen ihre Tränen. »Donny Beck.«
»Ihr Freund?«
Sie nickt. »Exfreund. Er war verrückt nach Amanda.«
»Und sie?«
»Sie mochte ihn, aber mehr nicht.«
Ein anderes Foto zeigt Amanda auf dem Rücken eines Rotfuchses; sie grinst, als hätte sie gerade das Kentucky Derby gewonnen.
»Sie liebt Pferde.« Belinda Horner sieht aus, als wäre sie in den letzten fünf Minuten um zehn Jahre gealtert. Ihre Augen liegen tief in den Höhlen, ihre Wangen sind eingefallen und ihr verlaufenes Make-up erinnert an einen traurigen Clown. »Harold und ich hatten ihr zum Highschool-Abschluss Reitstunden geschenkt. Das konnten wir uns eigentlich nicht leisten, aber sie hat sich so darüber gefreut.«
Ich stelle das Foto wieder zurück. »Hat sie Tagebuch geführt, Ma’am? Oder einen Terminkalender gehabt?«
»Ich weiß es nicht.« Sie nimmt einen verschlissenen Teddy,
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