Die Zahlen Der Toten
machen. Es war eine der besten und aufregendsten Zeiten in meinem Leben.
Mamm
kam mit dem Bus zu meiner Abschlussfeier nach Columbus, eine eklatante Missachtung der
Ordnung,
in der die Regeln unserer Kirchengemeinde festgelegt sind. Meine Mutter tat es trotzdem, und dafür werde ich ihr immer dankbar sein. Ich machte sie mit Gina bekannt und eröffnete ihr, dass wir uns an der Polizeiakademie einschreiben wollten. Das verstand sie zwar nicht, hielt aber weiter zu mir. Es war das letzte Mal, dass ich sie vor der Krebsdiagnose gesehen hatte. Sechs Monate nach meiner Graduierung hatte
Datt
plötzlich einen Schlaganfall und starb. Ich war nicht auf seiner Beerdigung. Doch für meine
Mamm
war ich zurückgekommen, um am Ende ihres Lebens bei ihr zu sein. Und um auf der Farm mitzuhelfen. Das war jedenfalls mein Vorwand. Aber wenn ich ehrlich bin, hatte es mich schon länger in Richtung Heimat gezogen. Zurückblickend weiß ich, dass es nicht nur der bevorstehende Tod meiner Mutter war, der mich zu dem Umzug bewogen hatte. Tief im Inneren wusste ich, dass die Zeit reif war, mich meiner Familie zu stellen – und einer Vergangenheit, vor der ich seit über einem Jahrzehnt weggelaufen war.
Zwei Wochen nach dem Tod meiner Mutter, als meine Schwester Sarah und ich gerade ihre Sachen durchsahen, erschienen zwei Stadtratsmitglieder auf unserer Farm. Norm Johnston und Neil Stubblefield informierten mich, dass Delbert McCoy, der Polizeichef von Painters Mill, in einem Monat in Rente gehen würde, und wollten wissen, ob ich Interesse hätte, seine Nachfolge anzutreten.
Ich war vollkommen verblüfft, überhaupt gefragt zu werden: eine ehemalige Amische und obendrein eine Frau. Doch ich fühlte mich auch geschmeichelt, und zwar wesentlich mehr als angebracht. Erst später, als ich Zeit hatte, alles ins rechte Licht zu rücken, wurde mir klar, dass das Angebot mehr mit Kleinstadtpolitik zu tun hatte als mit meiner Erfahrung bei der Polizei. Painters Mill ist zwar eine idyllische Stadt, aber sicherlich nicht perfekt. Zwischen den Amischen und Englischen gibt es ernste kulturelle Probleme. Da der Tourismus einen Großteil der städtischen Einnahmen ausmacht, wollte der Stadtrat jemanden, der die erregten Gemüter beschwichtigen konnte, sowohl die der Amischen als auch der Englischen.
Ich war die perfekte Kandidatin: Ich hatte acht Jahre Diensterfahrung, einen Abschluss in Strafrecht und war in dieser Stadt geboren und aufgewachsen. Und das Allerbeste: Ich war selbst einmal eine Amisch gewesen. Ich sprach fließend Pennsylvaniadeutsch, kannte die amische Kultur und stand ihrer Lebensweise verständnisvoll gegenüber.
Eine Woche später nahm ich das Jobangebot an. Ich quittierte meinen Dienst in Columbus, kaufte ein Haus, lud mein Hab und Gut in einen Umzugswagen und zog zurück in meine Heimatstadt. Das ist jetzt über zwei Jahre her, und ich habe meine Entscheidung nie bereut. Bis heute.
Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, ist weiß und schlicht, mit einer großen vorderen Veranda und Fenstern wie langgezogene traurige Augen. Dahinter steht die Scheune, imposant und rot, wie zum Beweis ihrer zentralen Funktion. Das Getreidesilo daneben ragt hoch in den verhangenen Winterhimmel.
Ich parke in der Auffahrt und stelle den Motor ab. Von hier aus kann man den Garten hinter dem Haus sehen. Der Ahornbaum, den ich mit meinem Vater gepflanzt habe, als ich zwölf Jahre alt war, überragt inzwischen das Haus. Es erstaunt mich immer wieder, wie wenig sich hier verändert hat, wo doch mein eigenes Leben so vollkommen anders geworden ist. Von all den Aufgaben, die ich heute Morgen zu bewältigen hatte, ist das jetzt die schwierigste. Aber dass ich mir eher den misshandelten Leichnam einer jungen Frau ansehen kann, als meiner eigenen Familie gegenüberzutreten, ist keine angenehme Vorstellung. Ich will nicht darüber nachdenken, was das über mich als Mensch aussagt, und muss mir beschämt eingestehen, dass ich bis ans Ende meiner Tage zufrieden leben könnte, ohne meine Geschwister je wiederzusehen.
Ich zwinge mich, aus dem Explorer auszusteigen. Wie schon bei Stutz, ist auch hier der Fußweg freigeschaufelt. Und zwar nicht mit einer motorisierten Schneefräse, sondern auf amische Weise mit der Schneeschaufel. Mit zittrigen Beinen und hochnervös gehe ich über die Veranda zur Eingangstür. Ich würde das zwar gern auf zu viel Kaffee, den Stress oder die Kälte schieben, doch ich weiß, dass es mit alledem nichts zu tun hat. Grund dafür ist
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