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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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besonderen Kriterien?«
    »Machen Sie erst mal nur die Liste, sobald ich im Revier bin, gebe ich Ihnen mehr Einzelheiten.«
    Ich lasse den Motor an und fahre Richtung Highway, versuche, nicht allzu viel an das zu denken, was ich als Nächstes tun muss.
     
    Mein Bruder Jacob, seine Frau Irene und meine zwei Neffen, Elam und James, leben neun Meilen östlich der Stadt auf einer sechsundzwanzig Hektar großen Farm, die seit achtzig Jahren im Besitz der Familie Burkholder und nur über eine unbefestigte Straße zu erreichen ist. Gemäß amischer Tradition hat Jacob, der älteste und einzige männliche Nachkomme in unserer Familie, nach dem Tod meiner Mutter vor zwei Jahren die Farm geerbt.
    Als ich auf die Schotterstraße einbiege, stelle ich auf Allradantrieb um und lenke den Explorer durch hohen Schnee, bete, dass ich nicht stecken bleibe. Ich fahre viel zu schnell durch die vertraute Landschaft, in der jetzt rechts von mir ein kleiner Garten mit Apfelbäumen auftaucht, deren kahle Äste mich unter ihrem weißen Winterkleid misstrauisch zu beäugen scheinen.
    Ich gehöre nicht mehr hierher, bin eine Fremde, die unbefugt heiliges Land betritt. Diese Tatsache war mir nie bewusster als jetzt, wo ich die Welt meiner Vergangenheit betrete. Für die Menschen, die mir einmal sehr vertraut waren, bin ich jetzt eine Fremde. Ich besuche sie nur selten und kenne meine beiden Neffen kaum. Aber sosehr ich mir wünsche, dass sich das ändert, ist doch die Kluft zwischen uns zu groß.
    Links von mir drängen sich sechs Milchkühe um einen Futtertrog voll schneebedecktem Heu. Ein Stück weiter biegt der Weg nach rechts ab, und schnurgerade aufgereihte Getreideballen lenken meinen Blick zu dem Farmhaus dahinter. Ein schönes Bild, wie es da so mitten in der Schneelandschaft liegt, und einen Moment lang flackert in mir die Erinnerung an eine einfachere Zeit auf. Eine Zeit, als meine Schwester, mein Bruder und ich barfuß und sorglos über Weizenfelder tollten und im hohen Getreide Versteck spielten. Mir fallen die Wintertage ein, an denen wir mit unseren Cousins stundenlang auf Millers Teich Eishockey spielten. Damals hatten wir Kinder nur wenige Pflichten, mussten die Kühe und Ziegen melken, die Hühner füttern, unserer
Mamm
beim Bohnenpflücken helfen und, natürlich, beten.
    Diese glückliche Kindheit endete abrupt in dem Sommer, als ich vierzehn wurde. An dem Tag, an dem ein Mann namens Daniel Lapp unser Haus betrat in der Absicht zu töten. An dem Tag habe ich meine Unschuld verloren. Meine Fähigkeit zu vertrauen. Und zu vergeben. Meinen Glauben an Gott und an meine Familie. Fast hätte ich auch mein Leben verloren, und in den darauf folgenden Wochen wünschte ich mehr als einmal, es wäre so gekommen.
    Seit
Mamms
Beerdigung vor zwei Jahren war ich nicht mehr hier gewesen. Die meisten Amischen finden es wahrscheinlich beschämend, dass ich meinen Geschwistern aus dem Weg gehe, doch ich habe meine Gründe.
    Wäre meine Mutter nicht vor drei Jahren an Brustkrebs erkrankt, wäre ich nie wieder nach Painters Mill zurückgekommen. Doch
Mamm
und ich hatten immer eine besondere Beziehung zueinander gehabt. Sie hatte mich unterstützt, als andere es nicht taten – besonders als ich ihr und meinem Vater mitteilte, nicht der Glaubensgemeinschaft beitreten zu wollen. Ich wurde nach meiner Zeit der
Rumspringa,
in der den Jugendlichen viele Freiheiten zugestanden werden, nicht getauft, was meine Mutter zwar nicht guthieß, aber auch nicht verurteilte. Und sie hatte nie aufgehört, mich zu lieben.
    Mit achtzehn zog ich nach Columbus, wo ich ein ganzes Jahr lang arm wie eine Kirchenmaus war, unglücklich und verlorener als jemals zuvor. Die Rettung brachten eine ungewöhnliche Freundschaft und schließlich ein noch ungewöhnlicherer Job. Gina Colorosa lehrte mich, nicht amisch zu sein, und brachte mir in einem Schnellkurs all die gottlosen Gewohnheiten der »Englischen« oder Nicht-Amischen bei. Hungrig nach neuen Erfahrungen, lernte ich schnell. Ich kannte sie gerade mal einen Monat, als wir zusammen in eine Wohnung zogen und von Fast Food, Heineken-Bier und Marlboro Lights lebten. Sie arbeitete im Polizeipräsidium von Columbus in der Einsatzzentrale und verhalf mir zu einem Job in einem kleinen Revier in der Innenstadt, wo ich Anrufe entgegennahm. Diese Mindestlohn-Stelle war in den folgenden Wochen meine Welt – und meine Rettung.
    Schon bald schrieben Gina und ich uns am städtischen College ein, um einen Abschluss in Strafrecht zu

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