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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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hat?« Tote Menschen bluten nicht. Wenn Lapp zu dem Zeitpunkt noch geblutet hatte, lebte er noch. Er hätte sich aus dem flachen Grab befreien können und überleben …
    »Ich weiß es nicht. Ich möchte nichts damit zu tun haben.«
    »Das hast du aber.« Ich mache einen Schritt auf meinen Bruder zu, dringe in seinen Schutzraum ein. Das überrascht ihn so sehr, dass er zurückweicht und mich ansieht wie einen räudigen Hund. Ich hebe die Hand und halte ihm den Zeigefinger dicht vor die Nase. »Ich brauche deine Hilfe, verdammt noch mal. Ich muss die Gebeine finden, es führt kein Weg daran vorbei.«
    Er starrt mich an, stoisch und schweigsam wie eine Statue.
    »Wenn ich diesen Mistkerl nicht aufhalte, tötet er weiter.«
    Jacob zuckt bei meinem Sprachgebrauch zusammen, was mir kurzfristig ein wenig Befriedigung verschafft. »Bring deine englische Art nicht in mein Haus.«
    »Das hat nichts mit englisch oder amisch zu tun«, fahre ich ihn an. »Es geht darum, Menschenleben zu retten. Wenn du deinen Kopf in den Sand steckst, sterben vielleicht noch mehr Menschen. Willst du das?«
    Mein Bruder senkt den Blick zu Boden, die Wangenmuskeln angespannt. Als er mich schließlich wieder ansieht, sind seine Augen um Jahre gealtert. »Seit sechzehn Jahren bitte ich Gott um Vergebung. Ich habe versucht zu vergessen, was wir getan haben.«
    »Du meinst, was
ich
getan habe.«
    »Was wir alle getan haben.«
    In der Scheune wird es totenstill, wie aus Ehrfurcht vor dem Geheimnis, das gerade enthüllt wurde. Ich wusste, dass er zögern würde und dass ich ihn drängen muss. Doch eine Weigerung hatte ich nicht erwartet. Die Worte, die ich sagen muss, stecken mir wie stumpfe Rasierklingen im Hals. Ich spüre meinen Puls genau dort schlagen. Meine Wangen sind heiß. Ich bin Polizistin, ich habe einen Fall zu lösen, gemahne ich mich. Doch tief im Inneren bin ich ein Kind, das sich angesichts unfassbarer Brutalität wegduckt. Ein Mädchen, erdrückt von einem Geheimnis, das zu schwer wiegt, um es überhaupt einem Menschen aufzubürden. Ein Teenager, entsetzt von der eigenen Fähigkeit zur Gewalt.
    »Wenn du in die Hölle kommst, dann nicht wegen dem, was du an jenem Tag getan hast.« Meine Stimme zittert. »Sondern wegen dem, was du heute nicht tust.«
    »Allein Gott wird über mich richten, nicht du.«
    Wut steigt in mir auf, ich knirsche mit den Zähnen und in meinem Kopf rauscht das Blut lautstark wie ein Güterzug. Ich mache noch einen Schritt auf ihn zu. »Wenn er wieder mordet, hast du eine weitere Tote auf dem Gewissen. Eine unschuldige Frau wird entsetzliche Qualen leiden, bis er ihr schließlich die Kehle durchschneidet. Denk darüber nach, wenn du heute Abend schlafen gehst.«
    Ich wirbele herum und gehe zur Tür. Finstere Gedanken bevölkern mein Hirn, am liebsten würde ich die hübschen Briefkästen und Vogelhäuser zerschmettern, die mein Bruder mit viel Sorgfalt gebaut hat. Ich will ihm weh tun, genauso wie er mir weh tut. Doch ich reiße mich zusammen, sage mir, dass ich es auch alleine schaffen werde.
    Ich stoße das Scheunentor mit beiden Handballen auf und bin schon auf halbem Weg zum Auto, als ich Jacobs Stimme hinter mir höre.
    »Katie.«
    Normalerweise wäre ich weitergegangen. Oder ich hätte ihn mit ein paar geschliffenen Worten beschimpft, die ihm klarmachen würden, wie weit ich mich von meinen amischen Wurzeln entfernt habe. Doch ich bleibe stehen, weil ich verzweifelt bin. Weil ich Angst habe. Weil ich nicht will, dass noch jemand stirbt.
    »Ich komme mit.« Er stößt die Worte aus, doch seine Augen verraten den Widerwillen, mit dem er es tut. »Ich helfe dir.«
    Tränen füllen meine Augen, und ungewollte Gefühle überwältigen mich. Weil ich nicht will, dass er meine Verletzlichkeit sieht, gehe ich weiter den Fußweg entlang.
    »Ich hole dich nach Einbruch der Dunkelheit ab«, rufe ich ihm über die Schulter hinweg zu, und er starrt weiter hinter mir her.

6. Kapitel
    Als ich in den Explorer steige, wird die Küchengardine beiseitegeschoben. Irene steht am Fenster, mit schlichtem Kleid und
Kapp
im überhitzten Raum, und ich muss an meine Neffen denken und bin plötzlich deprimiert. Irene winkt, doch ich fahre ohne Abschiedsgruß davon. Ich möchte zwar zurückwinken, kann es aber nicht.
    Erst als ich viel zu schnell die unbefestigte Straße entlangbrettere, bekomme ich wieder Luft. Und mir wird das ganze Ausmaß meines Dilemmas bewusst. Ich habe Angst vor meinen Geheimnissen und dem Balanceakt, der

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