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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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doch das trifft nicht ganz zu. Meine Schwester arbeitet in der Stadt im Carriage Stop Country Shop, der hauptsächlich von englischen Touristen und Einwohnern von Painters Mill frequentiert wird. Zudem bekocht eine solide Gerüchteküche die ganze Stadt, und wer Ohren hat, der hört, selbst wenn man amisch ist.
    Ich schiebe die Hände in die Jackentaschen und gehe noch tiefer in die Scheune hinein, brauche einen Moment, um meine Gedanken zu ordnen. Der erdige Geruch von Mist und Heu erinnert mich an die Tage, die ich in meiner Kindheit in der Scheune verbracht habe. Weiter hinten stehen vier Jersey-Kühe, die rosa Euter prall mit Milch gefüllt. Rechts von mir, in Regalen aus Kiefernbrettern und Backsteinen, sind ein Dutzend rote und weiße Briefkästen aufgereiht, die wie Farmhäuser aussehen. Daneben stehen kunstvolle Vogelhäuser und Schaukelpferde mit echter Pferdemähne, und mir wird bewusst, dass Jacob das handwerkliche Geschick unseres Vaters geerbt hat.
    Als ich ihn hinter mir höre, drehe ich mich zu ihm um. »In Painters Mill wurde letzte Nacht ein Mädchen ermordet«, beginne ich.
    Er steht keine zwei Meter von mir entfernt da, den Kopf leicht zur Seite geneigt und einen vorsichtigen Ausdruck im Gesicht. »Ermordet? Wer?«
    »Amanda Horner, eine junge Frau.«
    »Ist sie eine Amisch?«
    Es ärgert mich, dass ihm das wichtig ist, doch ich sage nichts. Zu viele Gefühle brodeln in mir. Wenn ich diese Büchse der Pandora erst einmal aufmache, kann ich sie vielleicht nicht wieder schließen. »Nein.«
    »Was hat der Mord mit mir und meiner Familie zu tun?«
    Ich sehe meinem Bruder fest in die Augen. »Die Frau wurde auf die gleiche Weise getötet wie die Mädchen Anfang der neunziger Jahre.«
    In der Stille der Scheune klingt sein rasches Luftholen wie ein Flüstern. Er sieht mich an wie eine Fremde, die gekommen ist, seine Welt zu zerstören.
    »Wie ist das möglich?«, fragt er kurze Zeit später.
    Die gleiche Frage wütet in mir wie ein Sturm. Weil ich keine Antwort darauf habe, starre ich ihn an und tue alles, um nicht zu zittern. »Vielleicht ist es der gleiche Kerl.«
    Ich kann sehen, wie in Jacobs Kopf die Gedanken zu jenem furchtbaren Tag gezerrt werden. Einem Tag, an dem alle in unserer Familie zerstört wurden, besonders ich. Er schüttelt den Kopf. »Das ist unmöglich. Daniel Lapp ist tot.«
    Ich schließe die Augen vor den Worten, an die ich sechzehn Jahre lang geglaubt habe. Worte, die mir ein halbes Leben lang unermessliches Leid und große Schuldgefühle bereitet haben. Ich öffne die Augen, sehe meinen Bruder wieder an und weiß, dass er meine Gedanken lesen kann. »Ich muss ganz sicher sein«, sage ich. »Ich muss die Leiche sehen.«
    Er sieht mich an, als hätte ich ihn gebeten, Gott abzuschwören.
    Damals hatte ich erst Wochen nach dem Vorfall herausgefunden, dass Jacob und mein Vater die Leiche begraben hatten. Schreckliche Albträume hatten mich geplagt. Einmal war ich nachts schreiend im Bett aufgewacht, sicher, dass der Mann, der versucht hatte, mich zu töten, in meinem Zimmer war. Aber mein großer Bruder war zu mir geeilt, hatte mich tröstend in den Armen gehalten und mir verraten, dass
Datt
die Leiche im angrenzenden County in einem ehemaligen Getreidespeicher beerdigt hatte und dass der Mann nie wieder jemandem weh tun konnte.
    »Du weißt, wo er begraben ist«, sagt Jacob. »Ich habe es dir erzählt.«
    Das stimmt. Der alte Getreidespeicher wird seit zwanzig Jahren nicht mehr benutzt, ich bin schon hunderte Male dort vorbeigefahren. Aber ich habe nie angehalten, nie zu genau hingeguckt. Überhaupt gestatte ich mir nur selten, an das Geheimnis zu denken, das dort begraben liegt. »Ich brauche deine Hilfe.«
    »Ich kann dir nicht helfen.«
    »Komm mit mir. Heute Abend. Zeig mir, wo genau.«
    Er reißt die Augen auf, und ich sehe die Angst darin. Mein Bruder ist ein stoischer Mann, weshalb seine Reaktion noch schwerer wiegt. »Katie,
Datt
hat mich nicht mit reingenommen. Ich weiß nicht wo –«
    »Ich schaffe es nicht alleine. Der Speicher ist groß, Jacob. Ich weiß nicht, wo ich nachsehen soll.«
    »Daniel Lapp kann die furchtbare Tat nicht begangen haben«, sagt er.
    »Jemand
hat das Mädchen getötet. Jemand, der sich mit Einzelheiten dieser Morde auskennt, die damals nicht veröffentlicht wurden. Wie erklärst du dir das?«
    »Kann ich nicht. Aber ich habe die … Leiche gesehen. Und all das Blut … zu viel, um zu überleben.«
    »Hat er noch geblutet, als
Datt
ihn begraben

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