Die Zahlen Der Toten
der Mann, dem ich gleich gegenüberstehen werde, und das Geheimnis, das uns verbindet.
Ich klopfe und warte. Schritte werden laut, dann geht die Tür auf. Meine Schwägerin, Irene, ist einige Jahre jünger als ich, hat eine schöne Haut und klare, haselnussbraune Augen. Ihr Haar ist im Nacken zu einem Knoten gebunden und wird von der traditionellen
Kapp
bedeckt. In dem grünen Kattunkleid und der weißen Schürze repräsentiert sie den Typ Frau, der ich geworden wäre, wenn nicht das Schicksal eingegriffen und alles verändert hätte. »Guten Tag, Katie.« Sie spricht Pennsylvaniadeutsch, ihr Ton ist freundlich, doch ihre Augen können die Skepsis mir gegenüber nicht verbergen. Sie tritt zur Seite, macht die Tür ganz auf. »Wie geht’s?«
Ich trete ins Wohnzimmer, wo es nach gebratenem Schinkenspeck riecht. Im Haus ist es warm und gemütlich, doch ich weiß, wie sehr es in den Zimmern zieht, sobald die Temperatur unter null fällt.
Ich verliere keine Zeit mit netter Plauderei. »Ist Jacob da?«
Irene versteht nicht, warum ich mit meiner Familie keinen Umgang pflege. Ich habe sie nur wenige Male getroffen, doch immer den Eindruck gehabt, dass sie sich meine Schroffheit damit erklärt, dass ich unter
Bann
gestellt wurde. Doch die Wahrheit sieht ganz anders aus. Ich habe großen Respekt vor den Amischen und ihrer Kultur. Ich werfe ihnen nicht vor, dass sie mich in ihre Gemeinde zurückholen wollen. Doch ich verspüre nicht den Wunsch, Irene darüber aufzuklären.
»Er ist in der Scheune und repariert den Traktor«, antwortet sie.
Die Erwähnung des Traktors entlockt mir fast ein Lächeln. Mein Vater hatte nur einen Pferdepflug benutzt, doch Jacob, den viele Amische der Alten Ordnung für liberal halten, hatte letztes Jahr einen Traktor mit Stahlrädern gekauft.
»Soll ich ihn holen?«
»Ich gehe zu ihm.« Ich würde mich gern nach meinen Neffen erkundigen, kann mich aber nicht dazu durchringen und rede mir ein, keine Zeit zu haben. In Wirklichkeit weiß ich einfach nicht, wie ich auf sie zugehen kann.
Irene streicht sich die Schürze glatt und macht sich auf zur Küche. »Ich backe gerade Streuselkuchen. Möchtest du ein Stück, Katie? Und eine Tasse Tee?«
»Nein danke.« Ich bin kurz vor dem Verhungern, aber beim Betreten der Küche verspüre ich keinen Appetit. Sie ist mollig warm von der Hitze, die der Herd ausstrahlt, und anders gestrichen als bei meinem letzten Besuch. An der Wand zu meiner Rechten stehen neue Regale, die bis an die Decke reichen und mit Einmachgläsern und getrockneten Bohnen gefüllt sind. Doch keine der Veränderungen kann die Erinnerung auslöschen, die der Raum für mich enthält.
Auf dem Weg zur Hintertür bohren sich diese Erinnerungen wie krude, beharrliche Finger in mein Fleisch. Beim Passieren des Spülbeckens wird mir eng ums Herz, vor meinem inneren Auge taucht Blut darin auf, dickflüssig und rot auf weißem Porzellan. Mehr davon auf dem Boden, an meinen Händen, klebrig zwischen den Fingern …
Ich will Luft holen, doch es gelingt mir nicht. Meine Lippen und Wangen prickeln. Undeutlich nehme ich wahr, dass Irene etwas fragt, doch ich bin in Gedanken so weit weg, dass ich nicht antworten kann. Ich taste nach dem Türknauf, reiße die Tür auf. Die Kälte, die mir entgegenschlägt, reißt mich aus dem dunklen Tunnel meiner Vergangenheit. Die Erinnerungen verblassen, je näher ich der Scheune komme, und als ich sie erreiche, habe ich mich wieder beruhigt. Ich bin dankbar dafür, denn um meinem Bruder gegenüberzutreten, muss ich stark sein.
Die Scheunentür führt in eine saubere, aufgeräumte Werkstatt. Unter dem Fahrgestell eines Traktors, der mit zwei altmodischen Wagenhebern aufgebockt ist, gucken die Stiefel meines Bruders hervor.
»Jacob?«
Er gleitet unter dem Traktor hervor, setzt sich erst und steht dann auf, klopft den Dreck von Hose und Jacke. Unsere Blicke treffen sich. Er ist überrascht, mich zu sehen. Sein Gesichtsausdruck ist zwar nicht feindselig, aber auch nicht freundlich.
»Katie. Hallo.«
Mein Bruder ist sechsunddreißig Jahre alt, doch sein Vollbart ist schon mit Grau durchzogen. Sein Mund, der mich früher herzlich angelächelt hat, ist jetzt ein schmaler, stets Missbilligung ausdrückender Strich.
»Was machst du hier?« Er zieht die Arbeitshandschuhe aus und wirft sie auf den Traktorsitz.
Ich frage mich, ob er schon von dem Mord gehört hat. Die Amischen möchten zwar glauben, in einer von den Englischen getrennten Gesellschaft zu leben,
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