Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
Vom Netzwerk:
Büro spürte John die bohrenden Blicke im Rücken. Er ging hinein, sah sich um und fragte sich, was in ihn gefahren war. Er hätte das Angebot annehmen sollen. Er hätte ruhig bleiben sollen. Wenn es jetzt nach Rummel ging, würden sie ihn feuern. Genug Gründe hatte er ihnen ja geliefert: flüssige Nahrung zum Lunch, benebelte Nachmittage – und das auch nur, wenn er überhaupt im Dienst erschienen war. Seine Schwäche für verschreibungspflichtige Medikamente war nur das Tüpfelchen auf dem i.
    Aber er hätte nicht gewusst, was er ohne die Pillen machen sollte. Wie er ohne sie durch den Tag oder – schlimmer noch – durch die Nacht kommen sollte. Im Prinzip war alles ein einziges Desaster.
    Er trat ans Fenster hinter seinem Schreibtisch und starrte auf die Autos, die vierzehn Stockwerke tiefer auf der Broad Street fuhren. Der Gedanke, allem ein Ende zu setzen, kam ihm nicht zum ersten Mal. Er könnte nach Hause gehen, sich Mut antrinken – und es hinter sich bringen. Doch John war zwar ganz unten, aber nicht so weit, sich das Hirn wegzublasen.
    Noch nicht.
    Mit einem Seufzer wandte er sich vom Fenster ab und ließ sich auf dem Schreibtischstuhl nieder. Er dachte an Nancy und Donna und Kelly und schämte sich, was aus ihm geworden war. Der Drang, die Fotos hervorzuholen, war stark, doch er widerstand ihm. Ihr Anblick würde ihm nicht helfen, sich besser zu fühlen. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie aussahen. Wenn er an seine Frau und seine beiden kleinen Mädchen dachte, hatte er immer die Bilder jener schrecklichen Nacht vor Augen, als er sie gefunden hatte …
    Ein leises Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. »Es ist offen.«
    McNinch trat sichtlich zerknirscht ein. »Tut mir leid, was gerade passiert ist.«
    »War nicht anders zu erwarten.«
    »Rummel weiß, dass du ein guter Polizist bist.«
    »Rummel weiß absolut nichts über mich.«
    McNinch setzte sich auf den Besucherstuhl und tat, als interessiere er sich für die Gedenktafeln, Belobigungen und gerahmten Diplome an der Wand. »Es war ein guter Deal«, sagte er nach einer Weile.
    »Ich bin noch nicht reif für die Rente.«
    »Es gibt eine Menge Dinge, die du machen könntest, John. Mit weniger Stress.«
    Sein Lächeln wirkte gequält. »Meinst du so was in der Art von ›Miete dir einen Polizisten‹?«
    McNinch runzelte die Stirn. »Verdammt, was weiß ich. Werd Privatdetektiv. Ein Freund von mir in Houston, ein ehemaliger Cop, arbeitet beim Sicherheitsdienst einer großen Pizza-Kette. Verdient nicht mal schlecht. Ein anderer ist Friedensrichter.«
    »Schön für sie.«
    »Du musst was machen, John. Rummel will dich loswerden. Er ist wie ein Hund und du bist ein verdammter Knochen. Im Moment kannst du noch selbst bestimmen, wie du aus der Tür rausgehst. In sechs Monaten hast du den Luxus vielleicht nicht mehr.«
    John sah ihn düster an. »Als Luxus würde ich das nicht gerade bezeichnen.«
    »Ach Mann, ich weiß, du hast Schlimmes durchgemacht –«
    »Ich hab nichts Schlimmes durchgemacht«, fuhr er ihn an. »Herrgott noch mal, sprich es aus. Hör mit der beschissenen Schönrederei auf.«
    Verdrossen sah Denny auf seine Hände. »Ich bin auf deiner Seite.«
    »Du bist auf der Seite, die für dich gerade am bequemsten ist. Aber ich hab’s kapiert, Denny. Ich bin lang genug dabei, um zu wissen, wie’s läuft.«
    »Tut mir leid, dass du so denkst.«
    »Yeah, mir auch.«
    McNinch erhob sich und ging zur Tür.
    Auf dem Stuhl zurückgelehnt, sah John hinter ihm her. Als die Tür zufiel, zog er die Schreibtischschublade auf und holte den Flachmann raus, die Silberschicht schon ganz matt vom vielen Gebrauch. Die Ironie, dass die Flasche ein Geschenk seiner Frau gewesen war, ließ ihn jedes Mal wieder innehalten, bevor er einen Schluck daraus nahm.
    Er griff seine Aktentasche, legte sie auf den Schoß und ließ sie aufschnappen. Erleichterung durchflutete ihn, als er in der Seitentasche das Pillenfläschchen ertastete. Er hasste sich dafür, was aus ihm geworden war – die kranke Parodie des Mannes, den er einmal dargestellt hatte. Ein verdammter Junkie. Er war alles, was er verachtete: schwach, abhängig, pathetisch. Er würde gern die Ärzte verantwortlich machen. Immerhin waren sie es, die ihm so eifrig die Pillen verschrieben hatten. Aber vor zwei Jahren war John ein totales Wrack gewesen, so fertig, dass er mit Selbstmordgedanken spielte. Einmal hatte er sich sogar schon den Pistolenlauf in den Mund gesteckt,

Weitere Kostenlose Bücher