Die Zahlen Der Toten
heraushaut.
»Mein Gott.«
Jacob fällt auf die Knie, gräbt mit den Händen, die in Handschuhen stecken. »Das muss es sein.«
Hoffnung durchströmt mich. Ich knie neben ihm, wühle wie ein Hund. Als mein Blick auf dunkles Haar fällt, dreht sich mir der Magen um.
Er setzt sich zurück auf die Fersen, die Augenbrauen zusammengezogen. »Es ist sehr flach.«
»Das muss es sein.« Ich grabe weiter, zu getrieben, um über seine Worte nachzudenken. »Der Boden kann sich bewegt haben. Hier sind bestimmt nicht
zwei
Leichen vergraben.«
»Katie …«
Erst dann merke ich, dass wir ein Tier freigeschaufelt haben. Ich blicke auf verfilztes Fell, das stumpfe Weiß alter Knochen. Ein glänzendes Würgehalsband sagt mir, dass es sich um einen Hund handelt. Enttäuschung überfällt mich. Ich starre auf den Kadaver, will es nicht glauben. Ich sehe meinen Bruder an, schlucke die wütenden Worte hinunter. »Verdammt, Jacob, wir müssen die Leiche finden.«
»Sprich nicht in deiner
englischen
Sprache mit mir.«
Ich ringe um Geduld, die mir zunehmend abhandenkommt. »Kannst du mal aufhören, Amisch versus Englisch zu denken? Dieser Mörder macht keinen Unterschied. Das nächste Opfer könnte genauso gut ein Amisch-Mädchen sein!«
»Ich versuch’s ja.«
»Dann gib dir eben mehr Mühe!« Mir ist klar, dass niemandem geholfen ist, wenn ich wütend werde, aber ich kann nicht anders. »Verdammt, Jacob, das bist du mir schuldig.«
Mein Bruder sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. In dem trüben Schein der Taschenlampe haben sie etwas Eulenhaftes. »Ich bin dir nichts schuldig.«
»Also wirklich! An dem Tag ist ein Verbrechen geschehen!
Datt
hat die ganze verfluchte Scheiße unter den Teppich gekehrt. So hätte man nicht damit umgehen dürfen, das weißt du genau!«
»
Datt
hat gemacht, was er für richtig hielt.«
»Richtig für wen?«
»Für die Familie.«
»Und wieso zählt nicht, was für mich richtig ist?« Ich schlage mir mit der flachen Hand auf die Brust. »Ich darf für den Rest meines Lebens nicht darüber reden, weil
Datt
bestimmt hat, dass die ganze Familie so tut, als wäre es nie passiert! Was glaubst du, hat das für mich bedeutet?«
Seine Augen glühen. »Du bist nicht die Einzige, die unter der Sünde leidet, die wir in jener Nacht begangen haben.«
»Aber ich bin die Einzige, die vergewaltigt und fast umgebracht wurde! Ich allein war gezwungen, jemandem das Leben zu nehmen!« Die Wut in meinen Worten erschreckt mich. Eine Stimme, die ich nicht wiedererkenne, hallt in dem Gebäude wider, auf seltsame Weise im Gleichklang mit dem heulenden Wind.
»Wir alle haben Blut an den Händen!«, faucht Jacob mich an. »Wir alle haben die gleiche Sünde begangen.«
»Für mich war es nicht das Gleiche! Seitdem siehst du mich anders an!« Ich kriege kaum noch Luft, kann nicht fassen, was mit mir passiert. Anscheinend hat die ganze Zeit ein emotionaler Dampfkochtopf unbemerkt in mir gebrodelt. Ich will die Worte aufhalten, doch sie spritzen wie Blut aus einer Wunde. »Du hast nicht zu mir gehalten. Du hast mich nicht unterstützt bei der Entscheidung, die Glaubensgemeinschaft zu verlassen.«
»Ich billige deine Entscheidung noch immer nicht.« Er starrt mich an, das Gesicht seltsam bleich. »Aber eines kann ich dir sagen. Wenn ich an dem Tag ein Gewehr in der Hand gehabt hätte, hätte ich für dich getötet. Ich hätte mich Gottes Willen widersetzt und ein Leben genommen, weil es schlimmer gewesen wäre, dich nicht in dieser Welt zu haben. Es ist auch meine Sünde, Katie.«
Ich kämpfe gegen die Tränen an. Atemwölkchen bilden sich vor meinem Mund, während ich um Fassung ringe. »Und warum hasst du mich dann?«
»Ich hasse dich nicht.«
»Du gibst mir die Schuld. Warum gibst du mir die Schuld an dem, was passiert ist?«
Mein Bruder sagt nichts.
»Warum?«, schreie ich.
Sein Blick brennt sich in meinen. »Ich hab gesehen, wie du Daniel Lapp angelächelt hast.«
Das Blut gefriert mir in den Adern. Vollkommene Ruhe erfüllt mich, als mein Verstand versucht, die Bedeutung seiner Worte zu verstehen.
»Was?
«
»Wir waren auf der Weide. Daniel und ich haben Löcher für die Zaunpfosten gegraben. Es war heiß. Du hast uns Limonade gebracht. Er hat dich angesehen, wie ein Mann eine Frau ansieht. Katie, du hast ihn angelächelt.«
Mir ist, als hätte mir jemand eine Faust in den Magen gerammt. Ich starre meinen Bruder an und weiß, was er denkt – was er die ganzen Jahre von mir gedacht hat. Ich fühle
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