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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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mich krank. Die alte Scham kommt wieder hoch, gräbt sich wie Säure in meine Grundfesten. »Wie kannst du es wagen, auch nur anzudeuten, es sei meine eigene Schuld gewesen.«
    »Ich gebe dir nicht die Schuld. Aber ich kann nicht ändern, was ich gesehen habe.«
    »Herrgott noch mal, Jacob, ich war ein Kind.«
    Das Gesicht meines Bruders verschließt sich, er will nicht darüber reden, will meine Erklärung nicht hören. Doch mich erfüllt das Bedürfnis, mich zu verteidigen, mit Scham. Ich habe an jenem Tag getan, was ich tun musste, um mein Leben zu retten. Aber ein tief verwurzelter Glaube lässt sich schwer auslöschen, auch wenn man es noch so sehr versucht. Ich halte mich für eine aufgeklärte Frau, doch ich bin nun mal als Amische aufgewachsen, und einige ihrer alten Werte werden für mich immer Gültigkeit haben.
    Ich blicke mich um, kämpfe mich zurück in die Gegenwart, zum Grund warum wir hier sind. Dabei sage ich mir erneut, dass ich Polizistin bin und einen Mord aufzuklären habe. Langsam ziehen sich meine düsteren Gedanken in ihr Versteck zurück.
    Den Kopf gesenkt, reibe ich die schmerzende Stelle zwischen meinen Augen. »Ich kann jetzt nicht darüber reden. Ich muss Lapps Leiche finden.«
    Jacob starrt mich lange wortlos an, dann dreht er sich um und geht weg.
    Meine Füße schmerzen vor Kälte, meine Finger sind taub. Ich weiß nicht, ob ich wegen der Temperatur zittere oder ob meine Gefühle mich innerlich gefrieren lassen. Aber eines ist sicher: Ich habe meinen Bruder verloren. Eine vernichtende Erkenntnis, und doch nur eine mehr in meinem Leben. Am liebsten würde ich losheulen, aber stattdessen nehme ich die Schaufel, platziere die Taschenlampe auf einem durchgebrochenen Betonblock und fange an, den gefrorenen Boden aufzugraben.

10. Kapitel
    Es war ein Fehler, in die Kneipe zu gehen. John wusste, er würde sich betrinken und zur Sperrstunde um zwei Uhr hinausgeworfen werden. Aber wie all die anderen Abende, die er hier verbracht hatte, war das immer noch besser, als sich allein zu Hause volllaufen zu lassen.
    Avalon Bar & Grill
war eine schäbige Kneipe. Der Barkeeper war unfreundlich, die Gläser waren nie richtig sauber und der Besitzer panschte die Getränke. Aber die Burger schmeckten. Und selbst wenn er sich bis zur Besinnungslosigkeit betrank, fand er immer noch den Weg nach Hause. Inzwischen wusste er die kleinen Dinge im Leben zu schätzen.
    Er bestellte einen doppelten Chivas und ein dunkles Bier, dann spielte er eine Runde Billard. Doch aus einem Spiel wurden sechs, aus einem Doppelten wurden viele Doppelte, und John Tomasetti war wieder betrunken. Die Welt ging langsam den Bach runter.
    Er stand an der Theke, sah dem Barkeeper zu, wie er ihm das Glas nachfüllte – und leerte es dann in einem Zug. Der Alkohol brannte in seiner Speiseröhre und landete wie ein Feuerball in seinem Magen. Er hatte sich noch nie etwas aus Whiskey gemacht, nicht mal aus den besten Sorten. Aber es ging ihm nicht um Genuss. Es ging ihm allein darum, diesen Tag zu überstehen, ohne dass er sich das Hirn wegpustete.
    Irgendwann war ihm sein Billardpartner abhandengekommen, und Kids aus dem College hatten sich am Billardtisch breitgemacht. Es war also an der Zeit, den Prozess zu beschleunigen, dachte John und machte sich auf zur Toilette. Dort fischte er eine Xanax aus der Hosentasche, kaute darauf herum und genoss den bitteren, kalkigen Geschmack, den er kurz darauf mit einem weiteren Bier wegspülte.
    Er wusste, dass Pillen und Alkohol sich nicht miteinander vertrugen und er eines Tages dafür bestraft würde. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass es noch schlimmer kommen konnte, was sein krankes Hirn durchaus als beruhigend empfand.
    Noch vor zwei Jahren hätte er jeden ausgelacht, der ihm eine Zukunft prophezeit hätte, in der ihm seine Familie genommen und er allein zurückbleiben würde, in der er einen Mann kaltblütig erschießen und nichts weiter als eine flüchtige Befriedigung empfinden und sogar seine Polizeierfahrung nutzen würde, um die Tat einem anderen anzuhängen. Dass er einmal Alkohol und Pillen brauchen würde, um durch den Tag zu kommen.
    Zum tausendsten Mal wünschte John, es hätte ihn anstatt seiner Familie erwischt. Ohne zu zögern, hätte er sein Leben gegeben, wenn sie dadurch gerettet worden wäre. Aber das Schicksal folgte eigenen Gesetzen: Es machte weder Tauschhandel, noch gewährte es eine zweite Chance.
    Zurück im Schankraum, bestellte er einen weiteren Doppelten und

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