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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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wir anfangen sollen, und frage mich, was von der Leiche übrig sein wird. Knochen? Kleider? Ist das notdürftige Grab noch als solches erkennbar? Ich blicke nach unten, stampfe auf den gefrorenen Boden und bin froh, dass ich an die Spitzhacke gedacht habe.
    Neben mir verschwindet Jacob noch tiefer in seiner Jacke. »Ich bin seit jener Nacht nicht mehr hier gewesen.«
    Und ich bin tausendmal hier vorbeigefahren, und jedes Mal ist es mir eiskalt den Rücken hinuntergelaufen, aber angehalten habe ich nie. Wenn wir auf dem Revier einen Anruf bekommen, dass hier draußen seltsame Dinge vor sich gehen, schicke ich immer jemand anderen hin.
    Die Hände auf den Hüften blickt mein Bruder sich um, als versuche er, sich zu orientieren.
    »Wo graben wir?«, will ich wissen.
    »Ich bin mir nicht sicher.«
    »Was soll das heißen, du bist dir nicht sicher?«
    »Ich war draußen bei der Kutsche geblieben.
Datt
hat das Grab gegraben, nicht ich.«
    Ich könnte vor Frustration schreien, doch ich halte den Mund. Ich lasse ihn einfach stehen, gehe zum Wagen, öffne die Hecktür und hole zwei Schaufeln, einen Bolzenschneider und die Spitzhacke heraus und lehne alles an den Kotflügel.
    Jacob durchmisst das Gebäude, studiert den Boden, wobei er den Kopf hin und her bewegt, als hätte er etwas verloren.
    Ohne das Werkzeug gehe ich zu ihm. »Wir müssen das Grab finden«, sage ich.
    Er zuckt mit den Schultern. »Vielleicht sollten wir nach aufgewühlter Erde suchen.«
    Doch Erde, die vor sechzehn Jahren aufgewühlt wurde, ist sicher längst wieder dem Boden gleichgemacht. Gegen die aufkommende Hoffnungslosigkeit ankämpfend, blicke ich mich um, suche irgendetwas, das einen Anhaltspunkt geben könnte. »Von wo aus habt ihr in der Nacht das Gebäude betreten?«
    Jacob zeigt auf das kaputte Rolltor am anderen Ende. »Damals war es noch intakt. Ich stand mit der Kutsche davor.
Datt
hatte die Leiche …« Er lässt den Satz unvollendet. »Es war dunkel und hat geregnet. Das Pferd hat gescheut. Wir waren nass bis auf die Knochen. Hatten Angst. Um uns selbst«, er wirft mir einen Blick zu, »und um dich. Ich hatte
Datt
noch nie so verstört gesehen. Er hat mit sich selbst geredet und Gott um Vergebung gebeten.«
    Es ist das erste Mal, dass Jacob über jene Nacht spricht. Seine Worte beschwören Erinnerungen herauf, die ich mein halbes Leben lang zu vergessen versucht habe: Meine Schwester wischt kniend Blut vom Küchenboden.
Mamm
wäscht die Gardinen in rosafarbenem Wasser. Ich sitze in der kochend heißen Badewanne, schrubbe meinen Körper wund – aber nicht sauber. Ein kleiner, verhasster Teil in mir wünschte, selbst auch tot zu sein.
    Ich schüttele den Kopf, schiebe die Vergangenheit beiseite. Ich bin jetzt eine erwachsene Frau, gemahne ich mich. Ich bin Polizistin und fest entschlossen, das hier durchzuziehen, auch wenn es noch so schwer ist. »Wir machen uns besser getrennt auf die Suche.«
    Ich warte nicht auf seine Antwort. Für mich steht fest, dass diese grausige Exkursion nur ein paar Stunden dauern darf, weil ich die dringenderen Aspekte des Falls bearbeiten muss. Wenn wir das Grab heute Nacht nicht finden, muss ich noch mal wiederkommen.
    Jacob geht zum Rolltor am anderen Ende des Gangs. Ich lasse den Blick schweifen, versuche, wie mein Vater zu denken. Es war Sommer. Stürmisch. Dunkel. Er war vollkommen verstört, entsetzt über das, was seiner Tochter passiert war, vielleicht sogar noch mehr darüber, was sie getan hatte. Er musste eine Leiche verschwinden lassen. Seine Familie beschützen. Wo würde er den Beweis vergraben?
    Mein Blick bleibt an der LKW -Waage hängen. Die Holzbretter sind bedeckt mit Jahrzehnte altem Dreck, Schotter und schmutzigem Öl. Der Geruch von Kerosin vermischt sich mit der Kälte, die mir das Atmen schwermacht. Ich lege die Taschenlampe auf den Boden, nehme eine Schaufel und stoße das Blatt zwischen Stahlrahmen und Waagenbrücke. Ich stemme mich mit dem ganzen Gewicht auf die Schaufel, die Brücke knarrt, gibt aber keinen Zentimeter nach.
    »Katie! Komm her.«
    Mein Bruder steht an der hinteren Tür, den Blick auf einen kleinen Erdhügel gerichtet. »Ich habe was gefunden.«
    Ich schnappe mir die Spitzhacke, gehe hin und reiche sie ihm. »Grab.«
    Ohne mich anzusehen, legt Jacob seine Taschenlampe hin, schwingt die Hacke bis über den Kopf und fängt an, den gefrorenen Boden aufzuhauen, ächzt bei jedem Hieb.
    Ich leuchte auf die Stelle, die langsam zum Loch wird, je mehr gefrorene Erdbrocken er

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