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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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wäre ich in den Graben gefahren. »Nein!«
    »Sie müssen ja nicht alles wissen. Nur dass Lapp noch leben und wieder morden könnte.«
    »Nein, Jacob. Das werden wir niemandem erzählen.«
    »Sie hat Angst, Katie.«
    »Ich rede mit ihr.«
    Er sieht aus dem Fenster, dann wieder zu mir. »Ich glaube nicht, dass Daniel lebt. Aber falls doch …« Er zuckt mit den Schultern, lässt den Satz unvollendet. »Vielleicht hat Sarah recht.«
    »Ich komme damit klar«, stoße ich hervor.
    »Wie denn, wenn du nicht einmal weißt, wo er ist.«
    »In ein paar Stunden weiß ich das hoffentlich.«
    Dreißig Minuten später halte ich an einem einsamen Straßenabschnitt, wo Eisenbahnschienen den schneebedeckten Asphalt durchziehen. Fünfzig Meter zu meiner Linken erhebt sich der massive Getreidespeicher wie eine urzeitliche Felsformation. Ich sehe drei Betonsilos und einen bedenklich zur Seite geneigten Wasserturm, dessen hintere Holzkonstruktion sich langsam mit dem vordringenden skelettartigen Wald vereinigt. Davor steht genau in der Mitte das Hauptgebäude aus Wellblech, doppelstöckig und spitz zulaufend. Diese krasse Unproportionalität verleiht dem Ganzen das Aussehen eines hässlichen Wasservogels.
    Der 1926 von der Wilbur Seed Company errichtete Getreidespeicher und die Silos wurden in den frühen Siebzigern, nach dem Bau der Eisenbahnstrecke durch Painters Mill, dem Verfall anheimgegeben. Ein paar Jahre später hatte man im Westen der Stadt einen moderneren Getreidespeicher errichtet, und die Wilbur Seed Company schloss ihre Tore. Die alten Bauten sind ein Wahrzeichen, ein Schandfleck von historischer Bedeutsamkeit, ein Ort, an dem die Leute ihren Müll abladen und Teenager Bier trinken und knutschen. Sie eignen sich auch vorzüglich, eine Leiche verschwinden zu lassen …
    Die Stille wird jetzt nur noch vom Motoren- und Heizungsgeräusch meines Wagens durchbrochen. Mein Bruder starrt aus dem Beifahrerfenster. Ich werfe ihm einen Blick zu, sollte ihm danken, dass er mitgekommen ist, kann es aber nicht. Nachdem ich mir viele Jahre lang selbst die Schuld gegeben hatte, war mir schließlich klar geworden, dass auch andere an jenem Tag Fehler gemacht haben: meine Eltern, die sich weigerten, das Verbrechen zu melden, meine Geschwister, die stillschweigend einverstanden waren. All das hat mich mein Leben lang verfolgt und dazu geführt, dass ich Dinge mache, die ich mir nie zugetraut hätte. So gesehen schuldet mir Jacob etwas.
    Ich stelle auf Allradantrieb um und biege in die Einfahrt, benutze die Telefonmasten am Weg zur Orientierung.
    Jacob umklammert die Armlehne. »Du wirst im Schnee stecken bleiben.«
    »Ich weiß, was ich mache.« Ich lenke den Geländewagen durch Schneeverwehungen, wobei die Räder abwechselnd durchdrehen und wieder greifen. Der Motor heult auf, als wir am Wellblechgebäude vorbeischlittern, ich reiße das Lenkrad herum und wir rutschen um die Ecke zur Rückseite des Hauses. Von der Straße aus ist der Wagen jetzt nicht mehr zu sehen. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist ein wohlmeinender Cop – von meiner eigenen Truppe oder einen Deputy vom Büro des Sheriffs –, der zufällig vorbeifährt und uns entdeckt. Für die nächtliche Fahrt hierher werde ich wohl kaum eine glaubhafte Erklärung finden.
    Ich stelle den Motor ab, streife die Handschuhe über und steige aus. Die eisige Luft beißt mir ins Gesicht und kriecht mir in den Kragen, als ich unter dem gewaltigen Rolltor durchgehe. In dem gigantischen Bauwerk heult der Wind wie ein verwundeter Hund. Mein Blick fällt auf eine fleckige Matratze und zwei Fünfzig-Gallonen-Kanister voller Einschusslöcher. An der hinteren Wand der Lastwagenzufahrt stehen ein halbes Dutzend Müllsäcke, von denen die Hälfte von streunenden Hunden oder Waschbären aufgerissen wurde.
    Ein paar Meter entfernt baumelt ein Vorhängeschloss an der Bürotür. Der betonierte Fußweg ist voller Risse wie nach einem Erdbeben. Winterbraunes Gras sprießt daraus hervor – die Natur holt sich zurück, was ihr einmal gehört hat. Die LKW -Waage ist etwa dreißig Zentimeter tief in den Boden gesunken. Am Ende der Lastwagenzufahrt gibt es ein zweites, von Vandalen oder vom Wind teilweise aus der Halterung gerissenes Rolltor, das gefährlich schief herunterhängt. Jenseits davon durchschneiden Stahlrohre, die früher einmal die wartenden Lastwagen mit dem Getreide der Silos füllten, den Nachthimmel.
    Die vor uns liegende Aufgabe ist makaber und beängstigend. Ich weiß nicht, wo

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