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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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Horner denken und kann die ungeheure Brutalität der Tat nicht in Einklang bringen mit dieser Bilderbuchstadt, die mir ans Herz gewachsen ist.
    Ich halte vor meinem Haus, lasse den Motor aber laufen. Eigentlich müsste ich Schluss machen für heute und schlafen, denn der morgige Tag wird sicher noch länger. Doch mein Kopf läuft auf Hochtouren, obwohl ich physisch schon lange am Ende bin. Falls Daniel Lapp damals wirklich überlebt hat, wen hätte er dann um Hilfe gebeten?
    In Zeiten der Not wendet ein Mann der Amisch sich an seine Familie.
    Ich schlage das Lenkrad ein, trete aufs Gas und fahre aus der Stadt. Dass ich Benjamin Lapp um diese Zeit nicht aufsuchen sollte, ist mir klar. Auch Polizisten müssen sich an Vorschriften und Regeln halten, und eine davon lautet, nicht um ein Uhr morgens an die Tür eines Bürgers zu klopfen. Doch wenn jemand etwas über den Verbleib von Daniel Lapp weiß, dann sein Bruder. Und da er ein Amisch ist, bin ich mir ziemlich sicher, dass er nicht morgen früh zum Stadtrat rennt und laut »Polizeigewalt« schreit.
    Östlich der Stadt biege ich in die Miller-Grove Road ein, eine lange, gewundene Straße, die in einer Sackgasse endet. Auf halbem Weg liegt die Farm der Lapps, die im Unterschied zu den meisten amischen Gehöften verwahrlost ist, was ein durchhängendes Scheunendach und aus dem Schnee ragendes hüfthohes Gras belegen. Ich parke neben der Werkstatt, nehme die Taschenlampe vom Beifahrersitz und marschiere zur Eingangstür.
    Obwohl ich nicht glaube, in Gefahr zu sein, öffne ich den Druckknopf meines Pistolenhalfters. Ein Polizist kann nie vorsichtig genug sein, auch nicht unter Pazifisten. Ich ziehe die Sturmtür auf, klopfe laut und warte. Als Lapp sich nicht rührt, hämmere ich mit der Taschenlampe ans Holz, was in der Stille hier draußen wie Donnerschläge hallt.
    Kurz darauf flackert im Inneren des Hauses gelbes Licht auf. Ich trete zurück und zur Seite, die Hand auf der . 38 er. Die Tür geht auf. Lapp hält die Laterne hoch und sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an, als wäre ich gerade von einem anderen Stern hergebeamt worden.
    »Katie Burkholder?«
    Selbst in dem düsteren Licht ähneln sich die beiden Brüder so sehr, dass ich augenblicklich stutze. Gänsehaut überzieht meine Arme. Ich sehe hellblaue Augen und braunes, unregelmäßig geschorenes Haar. Der gleiche schmallippige Mund, das gleiche ausladende Kinn. Eine Erinnerung blitzt auf. Ich will instinktiv zurücktreten, kämpfe aber mit aller Macht gegen die aufkommende Abscheu an.
    »Ich muss dir ein paar Fragen stellen, Benjamin.«
    Er ist unverheiratet und somit glatt rasiert. Sein Hemd steckt nur teilweise in der Hose, die Hosenträger hängen herab. An den Füßen trägt er Wollsocken.
    »Gibt es ein Problem? Es ist sehr spät.«
    Ich halte ihm meine Dienstmarke hin. Er starrt sie an, als könne er plötzlich nicht mehr lesen. »Es ist wichtig.«
    Er kneift wieder die Augen zusammen. »Worum geht’s?«
    »Deinen Bruder.«
    »Daniel?« Er reißt die Augen auf. »Hast du Neuigkeiten?«
    »Und du?« Ich trete an ihm vorbei ins Haus.
    Er bleibt an der Tür stehen und beobachtet mich, als wäre ich ein gefährliches Tier, das sich aus den Wäldern hierher gewagt hat. Es riecht nach nassem Hund und Kuhscheiße. Die dunkle Küche liegt geradeaus, der düstere Flur zu meiner Rechten. Weiter hinten führt eine Treppe in den ersten Stock.
    »Wann hast du Daniel das letzte Mal gesehen?«, frage ich.
    Wieder sieht er mich aus halb offenen, verschlafenen Augen an. »Vor sehr langer Zeit.«
    »Wie lange?«
    »Ich hab ihn seit dem Sommer, in dem er verschwunden ist, nicht mehr gesehen. Also über fünfzehn Jahre.«
    Ich sehe ihm fest in die Augen. »Bist du sicher? Er war nicht hier oder in der Stadt?«
    »Ganz sicher.«
    »Hat er Kontakt mit dir aufgenommen?«
    »Nein.«
    »Hast du ihm Geld geschickt?«
    Er runzelt die Stirn.
    »Lüg mich nicht an, Benjamin. Ich kann das überprüfen.«
    »Warum fragst du mich das alles? Hast du Neuigkeiten von Daniel?«
    Ich ignoriere seine Frage, trete auf ihn zu. »Du weißt, dass man Polizisten nicht anlügt«, sage ich mit drohendem Unterton.
    »Ich lüge nicht.«
    »Wo ist dein Bruder?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Erzähl mir von dem letzten Mal, als du ihn gesehen hast.«
    »Das hab ich schon der
englischen
Polizei –«
    »Erzähl es noch mal«, fahre ich ihn an.
    Er kratzt sich mit zwei Fingern an der Schläfe. »In dem Sommer hat er für deinen
Datt
gearbeitet.

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