Die Zahlen Der Toten
Kühlschrank, stelle sie auf den Tisch, fülle Eiswürfel in ein Glas und schenke mir ein. In so einer düsteren Stimmung ist es gefährlich, alleine zu trinken, doch wider besseren Wissens nehme ich den ersten Schluck.
Der Alkohol brennt bis hinunter in den Magen, doch ich leere das Glas und schenke mir ein zweites ein. Die Bilder des heutigen Tages gehen mir nicht aus dem Kopf: Amanda Horners geschundener Körper, das Leid in den Augen ihrer Mutter; Jacob und ich, wie wir in der Erde graben auf der Suche nach der Leiche des Mannes, den ich umgebracht habe – oder es zumindest ein halbes Leben lang geglaubt hatte. Ich weiß, dass Alkohol meine Probleme nicht löst, doch mit etwas Glück hilft er mir durch die Nacht.
Zurück im Arbeitszimmer logge ich mich bei OHLEG ein. Das System ist mir nicht vertraut, doch ich klicke mich so lange durch, bis ich an der richtigen Stelle lande. Die Suchmaschine kann von einer einzelnen Schnittstelle aus zahlreiche Datenquellen abfragen, und ich gebe den Namen ein – Daniel Lapp –, das County, und drücke die Return-Taste. Zwar sind die Erfolgsaussichten gering, aber falls er schon einmal verhaftet oder verurteilt wurde, falls man seine Fingerabdrücke genommen oder ihn auf die Liste der Sexualstraftäter gesetzt hat, wird mein Computer das morgen früh wissen.
Als ich in der Küche mein Glas nachfülle, lässt mich ein Kratzen am Fenster zusammenzucken. Ich wirbele herum, taste gleichzeitig nach meiner Waffe, die natürlich im Flur liegt, und muss dann lachen, als ich draußen auf der Fensterbank die orange getigerte Katze entdecke. Ich mache mir nichts aus Katzen, schon gar nicht aus verwahrlosten, umherstreunenden Katern, aber dieser hier hat sich geschickt mein Mitgefühl erschlichen. Er ist dreist, laut und hat nicht die leiseste Ahnung, dass er das Hässlichste ist, was Painters Mill seit Norm Johnstons Foto auf dem Wahlplakat gesehen hat. Seit Weihnachten taucht er regelmäßig auf, und weil er so erschreckend mager ist, stelle ich ihm ab und zu eine Schale Milch raus – und gelegentlich was zum Fressen. Heute Nacht sind die Temperaturen weit unter null, was mich zweifellos verpflichtet, ihn ins Haus zu lassen.
Ich gehe zur Hintertür und mache sie auf. Der getigerte Kater schießt herein, eiskalte Luft mit ihm, und sieht mich an, als wolle er fragen: Warum hat das so lange gedauert?
»Gewöhn dich lieber nicht dran«, murmele ich.
Der Kater schnurrt beim Klang meiner Stimme, und ich frage mich, warum er den Menschen noch immer traut, die ihn doch offensichtlich den Großteil seines Lebens ignoriert und misshandelt haben.
Ich bücke mich und hebe ihn hoch. Der Kater macht einen halbherzigen Versuch, mich zu beißen, was ich zu verhindern weiß, und wird dann ruhiger. Er ist nur Haut und Knochen unter dem verfilzten Fell. Beim Blick in meine Augen miaut er laut.
»Heute gibt’s nur Milch, Kumpel.«
Seine Ohren sind voller alter Kampfspuren, über die gefleckte Nase zieht sich längs eine Narbe und auf einer Seite fehlen die Schnurrhaare. Ein Überlebender, der trotz aller Unbilden seiner Existenz nicht aufgibt. Sollte mich das etwas lehren?
Ich gieße Milch in eine Schale, schenke mir selbst noch einen Wodka ein, setze den Kater auf den Boden und proste ihm zu. »Der ist auf eine gute Nacht.«
12. Kapitel
Die Vögel vor dem Fenster klingen wie plappernde Kinder. Ich backe gerade Brot. Über der Spüle bauschen sich in einer Brise die gelben Gardinen. Draußen rascheln die Blätter des Ahornbaums, und ich weiß, dass es später einen Sturm geben wird. Es riecht nach frisch geschnittenem Heu, Petroleum vom Küchenherd und warmer Backhefe. Ich möchte rausgehen, doch wie immer habe ich noch zu tun.
Ich grabe meine Hände in den warmen Teig. Das Brotbacken langweilt mich, ich hätte gern ein Radio, doch das hat
Datt
ausdrücklich verboten. Also summe ich eine Melodie, die ich in der Stadt im Carriage Shop gehört habe. Ein Lied über New York, und ich frage mich, wie die Welt jenseits der Kornfelder und Weiden von Painters Mill wohl aussieht. Verbotene Gedanken, aber es sind meine und ich muss sie verheimlichen.
Ich spüre, dass jemand hinter mir ist, drehe mich um und sehe Daniel Lapp in der Tür stehen. Er trägt dunkle Hosen mit Hosenträgern und ein graues Arbeitshemd. Ein breitkrempiger Strohhut bedeckt seinen Kopf. Er sieht mich an, wie ein Mann eine Frau ansieht. Ich lächele, obwohl ich weiß, dass ich es nicht sollte.
»Gott wird dir nicht
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