Die Zahlen Der Toten
Ich atme tief ein, versuche, mich auf das vorzubereiten, was gleich kommt. »Gibt es schon einen ersten Autopsiebericht?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich habe sie gesäubert und gerade die Voruntersuchung abgeschlossen. Kommen Sie mit.«
Dazu habe ich zwar gar keine Lust, aber ich muss diese junge Frau identifizieren. Irgendwo da draußen gibt es Menschen, die ihr nahestehen, die sich Sorgen machen. Vielleicht hat sie Kinder. Menschen, deren Leben sich durch ihren Tod unwiderruflich verändert.
Ich gehe zuerst zu der Nische, hänge meine Jacke auf und ziehe die Schutzkleidung über. Als ich zurückkomme, erwartet mich der Doktor bereits. »Die Schnitte auf ihrem Unterleib scheinen die römische Zahl XXII zu sein.«
»Nach Eintritt des Todes?«
»Vor Eintritt des Todes.« Wir passieren die zweite Schwingtür und kommen in den grau gekachelten Raum, der mir inzwischen verhasst ist.
Entlang der hinteren Wand befinden sich drei stählerne Seziertische, ein vierter steht unter dem grellen Licht einer großen Deckenlampe. Ich erkenne die menschliche Silhouette unter dem blauen Tuch und atme tief durch.
Doc Coblentz nimmt das Klemmbrett von der Ablage, zieht einen Stift aus der Brusttasche seines Laborkittels, sieht durch den Leseteil seiner Bifokalbrille, notiert etwas auf dem Blatt und legt das Brett zurück auf die Ablage. »Ich bin seit fast zwanzig Jahren Arzt, und nun seit acht Jahren Coroner. Das hier ist das Beunruhigendste, was ich je gesehen habe.«
Behutsam zieht er das Tuch weg. Beim Anblick der bräunlichgrünen Haut trete ich bestürzt einen Schritt zurück. Ihr Unterkiefer hängt runter und offenbart so die Zunge im Mundinneren. Die Wunde an ihrem Hals gleicht einem schwarzen, aufklaffenden Schlund.
Mein Blick wird angezogen von der römischen Zahl auf ihrem Unterleib. Die Schnitte sind ungelenk, aber die Ähnlichkeit mit der Wunde auf Amanda Horners Körper ist unverkennbar. »Todesursache?«
»Wie gehabt: Ausblutung. Er hat ihr die Kehle durchgeschnitten und sie ist verblutet.«
Ich muss sie mir genauer ansehen, ihre Haare, ihre Fingernägel, ihre Zehen – alles was hilft, um sie zu identifizieren. Doch meine Füße weigern sich, näher heranzutreten.
»Er hat sie vergewaltigt, auch anal.«
» DNA ?«
»Ich habe Abstriche gemacht, aber es gab keinerlei Flüssigkeit.«
»Er hat ein Kondom benutzt?«
»Wahrscheinlich. Ich weiß mehr, wenn die Ergebnisse vorliegen.« Der Arzt stößt einen Seufzer aus. »Er hat das Mädchen gefoltert, Kate. Sehen Sie sich das hier an.«
Er geht um den Seziertisch herum und holt vom Unterschrank ein rostfreies Tablett so groß wie ein Backblech. »Das war in ihrem After.«
Ich kann mich nicht überwinden, einen Blick auf das Ding zu werfen. Ich kann nicht mal dem Doktor in die Augen sehen, senke nur den Kopf und reibe mir die schmerzende Stelle zwischen den Augen. »Nach Eintritt des Todes?«
»Davor.«
Ich atme tief durch und zwinge mich, auf das Tablett zu sehen. Der Gegenstand ist ein Metallrohr, ungefähr eineinhalb Zentimeter Durchmesser und zwanzig Zentimeter lang. An einem Ende ist ein winziger Ösenhaken befestigt, das andere läuft spitz zu. Es sieht selbst gemacht aus und ist offensichtlich mit irgendetwas zurechtgeschliffen worden.
»Vergewaltigung mit einem Fremdkörper?« Ich frage mich, ob der Mörder vielleicht impotent ist. Eventuell war er bei einem Urologen wegen Erektionsstörungen. Ich nehme mir vor, das zu überprüfen.
»Das war meines Erachtens nicht der Grund, warum und wie er den Gegenstand benutzt hat.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich glaube, er ist Bestandteil eines selbst gebastelten Stromkreises.« Der Doktor nimmt das Teil in die Hand. »Das hier ist Kupfer, sehen Sie?« Er fährt mit dem durch Handschuhe geschützten Finger das Rohr entlang. »Als ich auf der Highschool war, habe ich stundenweise bei einem Elektriker gearbeitet. Kupfer ist einer der besten Stromleiter, die es gibt.«
Ich kenne mich mit Strom kaum aus. Aber ich weiß, dass er als Folterinstrument benutzt wird. Auf der Polizeiakademie hatte ich einmal gelesen, dass mexikanische Drogenkartelle mit Strom foltern, um Exempel zu statuieren.
Die Augen des Doktors drücken die gleiche Fassungslosigkeit und das Entsetzen aus, die auch mir den Hals zuschnüren. »Der Mörder hat also möglicherweise Erfahrung mit Elektrizität. Oder ist zumindest ein Bastler.« Das ist ein viel zu nettes Wort für einen Mann, der ein Folterinstrument gebaut hat. Väter basteln
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